Der Nachtzirkus
»Sie hat den Stoff verändert«, murmelt er vor sich hin. »Wie hat sie den Stoff verändert?«
Isobel räumt einen Stapel beiseitegelegter Bücher auf den Schreibtisch, wo ihr Tarot de Marseille liegt. Sie sieht zu Marco hinüber, der nun ganz in ein Buch vertieft ist. Leise legt sie die Karten in einer langen Reihe auf dem Schreibtisch aus.
Den Blick auf Marco geheftet, zieht sie eine Karte. Sie dreht sie auf dem Schreibtisch um und sieht sich an, was die Karten zu der Sache sagen.
Ein Mann steht zwischen zwei Frauen, über ihren Köpfen schwebt ein geflügelter Knabe mit Pfeil und Bogen. L’Amoureux. Die Liebenden.
»Ist sie hübsch?«, fragt Isobel.
Marco antwortet nicht.
Sie zieht eine weitere Karte aus der Reihe und legt sie auf die vorige. La Maison Dieu. Der Turm.
Stirnrunzelnd betrachtet sie das Bild mit dem einfallenden Turm und der herabstürzenden Gestalt. Sie legt beide Karten wieder zu den anderen und schiebt sie zu einem ordentlichen Stapel zusammen.
»Ist sie stärker als du?«, fragt Isobel.
Wieder bleibt Marco, der in einem Notizbuch blättert, ihr eine Antwort schuldig.
Seit Jahren fühlt er sich ganz gut vorbereitet. Das Üben mit Isobel hat sich als Vorteil erwiesen – er konnte seine Kunststücke in einzelnen Punkten so verbessern, dass selbst Isobel, die sie schon oft gesehen hat, sie nicht immer durchschaut.
Aber angesichts seiner Gegnerin hat ihn sein gutes Gefühl plötzlich verlassen. Nun ist er verwirrt und nervös.
Er hatte irgendwie erwartet, dass er im entscheidenden Moment schon wüsste, was zu tun sei.
Und er hatte den Gedanken gehegt, dass es vielleicht nie zum Äußersten kommen würde und die Aussicht auf das Spiel ihn lediglich zum Lernen anspornen sollte und mehr nicht.
»Dann beginnt die Prüfung also, wenn der Zirkus eröffnet?«, fragt Isobel. Er hatte fast schon vergessen, dass sie anwesend ist.
»Das ist wohl anzunehmen«, sagt Marco. »Mir ist allerdings nicht klar, wie wir gegeneinander antreten sollen, wenn der Zirkus auf Reisen geht und ich in London bleiben muss. Offenbar muss ich alles aus der Ferne machen.«
»Ich könnte mitreisen«, sagt Isobel.
»Was?« Marco sieht zu ihr auf.
»Du hast gesagt, der Zirkus braucht noch eine Wahrsagerin, oder? Ich könnte aus meinen Karten lesen. Bisher hab ich sie nur für mich gelegt, aber ich bin schon besser geworden. Wenn der Zirkus unterwegs ist, kann ich dir Briefe schreiben. Ich hätte einen Ort, wo ich hinkönnte, wenn ich während des Spiels nicht hierbleiben darf.«
»Ich weiß nicht, ob das gut ist«, erwidert Marco, aber er kann nicht genau sagen, warum. Er hatte nie daran gedacht, Isobel in sein Leben außerhalb der Wohnung einzubeziehen, und sie von Chandresh und dem Zirkus ferngehalten, um etwas Eigenes zu haben und auch weil es ihm angebracht schien, besonders nach dem vage formulierten Rat seines Lehrers.
»Bitte«, sagt Isobel. »Dann kann ich dir helfen.«
Marco blickt zögernd auf seine Bücher. In Gedanken sieht er immer noch das Mädchen aus dem Theater vor sich.
»Du wärst dem Zirkus näher«, fährt Isobel fort, »und ich hätte während deiner Prüfung etwas zu tun. Wenn alles vorbei ist, komme ich wieder nach London.«
»Ich weiß doch nicht mal sicher, worin die Prüfung besteht«, sagt Marco.
»Aber du weißt sicher, dass ich währenddessen nicht hierbleiben darf?«, fragt sie.
Marco seufzt. Sie haben schon darüber gesprochen, nicht in allen Einzelheiten, aber ausführlich genug, um klarzustellen, dass Isobel gehen muss, wenn die Prüfung beginnt.
»Ich habe schon genug bei Chandresh zu tun, und ich muss mich auf den Wettstreit konzentrieren, ohne … Ablenkung«, sagt er und übernimmt damit das Wort, das sein Lehrer für eine als Vorschlag getarnte Anordnung gewählt hat. Er weiß nicht, was ihn stärker beunruhigt: Isobel in das Spiel mit einzubeziehen oder die einzige Beziehung in seinem Leben aufzugeben, die ihm nicht diktiert wurde.
»Ich wäre dann keine Ablenkung, sondern ich würde dir helfen«, sagt Isobel. »Und wenn keine Hilfe erlaubt ist, dann schreibe ich dir eben nur Briefe, was ist daran auszusetzen? Mir scheint das eine ideale Lösung.«
»Ich kann ein Treffen zwischen dir und Chandresh arrangieren«, schlägt Marco vor.
»Du könntest ihn auch … überzeugen, mich einzustellen, oder?«, fragt Isobel. »Falls er überzeugt werden muss?«
Marco nickt, obwohl er immer noch leichte Zweifel hat, aber er braucht dringend eine Strategie. Eine Taktik, die
Weitere Kostenlose Bücher