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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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aufzugreifen, zumal Bailey noch keine sechzehn ist und es noch einige Zeit dauert, bis eine Entscheidung getroffen werden muss.
    Aber Bailey hält das Thema warm und spricht es so oft wie möglich an – er weiß auch nicht genau, warum. Er weist darauf hin, dass er anschließend immer noch auf die Farm zurückkehren könnte und vier Jahre nicht so furchtbar lang seien.
    Auf diese Äußerungen folgen zunächst Vorträge, aus denen bald lautstarke Befehle und Türenschlagen werden. Seine Mutter hält sich aus den Auseinandersetzungen möglichst heraus. Wenn man sie drängt, steht sie zu ihrem Ehemann, erklärt aber gleichzeitig leise, dass es eigentlich Baileys Entscheidung sein sollte.
    Bailey ist nicht einmal sicher, ob er nach Harvard möchte. Aber er mag die Stadt lieber als Caroline, und ihm selbst scheint Harvard eine geheimnisvolle, vielversprechende Lösung zu sein.
    Die Farm dagegen verspricht nur Schafe, Äpfel und Vorhersehbares.
    Er kann sich fast schon ausmalen, wie alles ablaufen wird. Jeden Tag. Jede Jahreszeit. Wann die Äpfel vom Baum fallen, wann die Schafe geschoren werden müssen, wann der Frost kommt.
    Immer das Gleiche, Jahr für Jahr.
    Er weist seine Mutter auf die endlose Monotonie hin, in der Hoffnung, mit ihr eine vernünftige Unterhaltung über seine Zukunft führen zu können, aber sie sagt nur, dass sie den Kreislauf des Landlebens beruhigend finde, und fragt, ob er schon seine Arbeit erledigt habe.
    Die Einladungen zum Tee in Cambridge sind jetzt nur noch an Bailey gerichtet und schließen seine Schwester vollends aus. Caroline murmelt, für solche Dinge hätte sie sowieso keine Zeit, und Bailey fährt allein hin und ist froh, den Ausflug ohne Carolines ständiges Geplapper genießen zu können.
    »Mir ist es ziemlich egal, ob du nach Harvard gehst oder nicht«, sagt seine Großmutter eines Nachmittags, ohne dass er das Thema angesprochen hätte. Meistens versucht er es zu vermeiden, weil er glaubt, den Standpunkt seiner Großmutter ohnehin zu kennen.
    Er gibt noch einen Löffel Zucker in seinen Tee und wartet auf ihre Erklärung.
    »Ich glaube, du hättest dort mehr Möglichkeiten«, fährt sie fort. »Und das wünsche ich mir für dich, auch wenn deine Eltern davon nicht sehr begeistert sind. Weißt du, warum ich meiner Tochter erlaubt habe, deinen Vater zu heiraten?«
    »Nein«, sagt Bailey. Über dieses Thema wurde in seiner Gegenwart nie gesprochen, allerdings hatte ihm Caroline einmal unter dem Siegel der Verschwiegenheit von einem kleinen Skandal erzählt. Noch fast zwanzig Jahre später setzt sein Vater keinen Fuß in das Haus von Baileys Großmutter, und auch sie kommt nie nach Concord.
    »Weil sie sowieso mit ihm durchgebrannt wäre«, sagt seine Großmutter. »Es war ihr Wunsch. Ich hätte eine andere Wahl für sie getroffen, aber man sollte seinen Kindern ihre Entscheidungen nicht vorschreiben. Ich habe gehört, wie du meinen Katzen Bücher vorgelesen hast. Mit fünf hast du einen Wäschezuber in ein Piratenschiff verwandelt und die Hortensien in meinem Garten attackiert. Erzähl mir also bitte nicht, dass du dich für diese Farm entscheiden würdest.«
    »Ich trage Verantwortung«, sagt Bailey und wiederholt damit das Wort, das er inzwischen hasst.
    Seine Großmutter gibt ein Geräusch von sich, das ein Lachen oder Husten sein könnte, oder eine Mischung aus beidem.
    »Folge deinen Träumen, Bailey«, sagt sie. »Sei es Harvard oder etwas ganz anderes. Egal, was dein werter Vater sagt. Er hat vergessen, dass auch er einmal der Traum von jemandem war.«
    Bailey nickt. Seine Großmutter lehnt sich in ihrem Sessel zurück und klagt eine Weile über die Nachbarn, ohne seinen Vater oder seine Träume noch einmal zu erwähnen. Als er dann geht, sagt sie allerdings noch: »Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.«
    »Natürlich nicht«, beteuert er.
    Er verschweigt ihr, dass er nur einen Traum hat, und der ist genauso unwahrscheinlich wie eine Laufbahn als Gartenpirat.
    Die Diskussionen mit seinem Vater führt er tapfer weiter.
    »Zählt meine Meinung denn gar nicht?«, fragt er eines Abends, bevor das Gespräch in Türenschlagen ausartet.
    »Nein, tut sie nicht«, antwortet sein Vater.
    »Vielleicht solltest du es lieber aufgeben, Bailey«, sagt seine Mutter leise, nachdem sein Vater das Zimmer verlassen hat.
    Dann fängt Bailey an, immer mehr Zeit außer Haus zu verbringen.
    Die Schulstunden kommen ihm viel zu kurz vor. Bailey arbeitet oft in den hinteren Reihen der Obstgärten,

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