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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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der Hand zurückkommt.
    Es ist ein schöner, kühler Nachmittag, und er führt sie zum Tee aus.
    »Was ist das?« Marco schaut im Gehen auf Isobels Handgelenk.
    »Nichts.« Sie zieht ihre Ärmelmanschette über das Armband, ein sorgfältig verwobenes Geflecht von einer Strähne aus ihrem Haar und seinem.
    Marco drängt nicht weiter auf sie ein.
    Als Isobel am Abend zum Zirkus zurückkehrt, ist das Armband weg, obwohl sie es nicht abgenommen hat – von ihrem Handgelenk verschwunden, als hätte sie es nie getragen.

Verkostung
    LYON, SEPTEMBER 1889
    H err Friedrick Thiessen ist auf Urlaub in Frankreich. Er fährt oft im Herbst nach Frankreich, denn er ist ein großer Weinliebhaber. Er sucht sich dann eine Region aus und streift eine Woche oder vielleicht auch zwei durch die Landschaft, besucht Weingüter und sammelt Flaschen erlesener Jahrgänge, die er nach München schicken lässt.
    Herr Thiessen ist mit mehreren französischen Winzern befreundet und hat für viele von ihnen schon Uhren gefertigt. Auf der jetzigen Reise will er einem dieser Kellermeister einen Besuch abstatten und die neuesten Weine kosten. Bei einem Glas Burgunder meint der Kellermeister, dass Friedrick der Zirkus gefallen könnte, der ein paar Kilometer außerhalb der Stadt seine Zelte aufgeschlagen hat. Ein recht ungewöhnlicher Zirkus, der nur nachts geöffnet ist.
    Doch vor allem die kunstvolle schwarzweiße Uhr, die sich unmittelbar hinter dem Eingang befindet, könnte Herrn Thiessen sehr interessieren, so der Kellermeister.
    »Erinnert mich an Ihre Arbeit«, sagt er und zeigt mit seinem Glas auf die Wand hinter der Bar: Die Uhr ist von außergewöhnlicher Form. Sie sieht aus wie eine Weinrebe, deren Trauben sich in eine Flasche ergießen, während die Zeiger auf dem Etikett (eine exakte Nachbildung vom Etikett des Weinguts) im Sekundentakt ticken.
    Herr Thiessen ist begeistert. Nach einem frühen Abendessen setzt er seinen Hut auf, zieht die Handschuhe über und geht langsam in die Richtung, die sein Winzerfreund angedeutet hatte. Sein Ziel ist nicht schwer zu finden, denn es sind noch mehr Leute unterwegs, und sobald sie aus der Stadt und in den Wiesen sind, ist der Zirkus nicht zu verfehlen.
    Er leuchtet. Das ist Herrn Thiessens erster Eindruck vom Cirque des Rêves, zumindest aus achthundert Metern Entfernung und bevor er den Namen überhaupt kennt. An diesem kalten Abend strebt er durch die französische Landschaft dem Zirkus entgegen wie eine Motte dem Licht.
    Bei Herrn Thiessens Ankunft wartet schon eine beträchtliche Menge am Tor, aber trotz der vielen Menschen hätte er seine Uhr auch dann sofort entdeckt, wenn er ihren Standort nicht gekannt hätte. Gleich hinter dem Eisentor, gegenüber vom Kassenhäuschen, ragt sie empor und ist kurz davor, sieben zu schlagen. Er tritt einen Schritt zurück und lässt die Schlange der nach Eintrittskarten Anstehenden an sich vorbei. Dann beobachtet er, wie der Harlekin-Jongleur eine siebte Kugel aus dem Nichts zieht, der Schwanz des Drachen zuckt und die Uhr siebenmal leise und über dem Zirkuslärm kaum hörbar schlägt.
    Herr Thiessen ist zufrieden. Allem Anschein nach ist die Uhr vollkommen funktionstüchtig und gut gepflegt, obwohl sie Wind und Wetter ausgesetzt ist. Er überlegt, ob sie vielleicht einen stärkeren Lack bräuchte, und wünscht, man hätte ihm noch während der Fertigung mitgeteilt, dass sie im Freien aufgestellt wird, auch wenn sie kein bisschen lädiert aussieht. Während er in der Schlange wartet, begutachtet er sie weiter und fragt sich, ob er in dieser Angelegenheit mit Mr Barris Kontakt aufnehmen sollte und ob er noch dessen Londoner Adresse in seinen Münchener Unterlagen hat.
    Als er an der Reihe ist, gibt er den angegebenen Francbetrag der Kartenverkäuferin, einer jungen Frau in schwarzem Kleid und langen weißen Handschuhen, ein Aufzug, der ihm eher für einen eleganten Abend in der Oper als zum Kartenverkaufen geeignet scheint. Er erkundigt sich auf Französisch, ob sie vielleicht wisse, wen er wegen der Uhr kontaktieren könne, und als sie ihn nicht versteht, wiederholt er die Frage auf Englisch. Sie antwortet nicht, aber ihre Augen leuchten auf, als er sich als Erbauer der Uhr vorstellt. Trotz seines Protests schiebt sie ihm seine Francmünzen zusammen mit der Eintrittskarte zu, kramt dann in einem kleinen Kästchen und holt eine Visitenkarte heraus, die sie ihm ebenfalls gibt.
    Herr Thiessen dankt ihr, tritt aus der Reihe und stellt sich an die Seite, um die

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