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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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Visitenkarte zu begutachten. Ein edles Exemplar aus schwerem Papier, mit schwarzem Hintergrund und silberner Prägeschrift.
    Le Cirque des Rêves
    Chandresh Christophe Lefèvre, Eigentümer
    Auf der Rückseite steht eine Londoner Adresse. Herr Thiessen steckt sie zusammen mit der Eintrittskarte und dem gesparten Geld in seine Manteltasche und geht in den Zirkus.
    Anfangs schlendert er einfach umher und erforscht ziellos das Zuhause seiner Wunschtraumuhr. Vielleicht liegt es an den vielen Monaten intensiver Arbeit an der Uhr, dass ihm der Zirkus vertraut und angenehm vorkommt. Die monochrome Farbgestaltung, die endlosen kreisförmigen Wege, die an Uhrwerke erinnern. Herr Thiessen staunt selbst, wie gut seine Uhr zum Zirkus passt und umgekehrt.
    An diesem ersten Abend betritt er nur einen Bruchteil der Zelte. Eine Weile schaut er Feuerschluckern und Schwerttänzern zu, dann probiert er einen sehr edlen Eiswein in einem Zelt, an dem steht: Weinschänke, Zutritt nur für Erwachsene. Als er sich nach dem Tropfen erkundigt, erklärt ihm der Wirt (der einzige Mensch, dem Friedrick im Zirkus begegnet, der etwas erwidert, als er angesprochen wird – wenn auch nur wenig), dass es ein kanadischer Wein ist, und schreibt ihm den Jahrgang auf.
    Als Herr Thiessen den Zirkus aus purer Erschöpfung verlässt, ist er vollkommen berauscht. Vor seiner Rückkehr nach München besucht er ihn noch zweimal und zahlt beide Male den vollen Eintritt.
    Zurück in München, schreibt er einen Brief an M. Lefèvre, in dem er ihm dankt, dass er seiner Uhr ein so schönes Zuhause gegeben hat und dass er den Zirkus erleben durfte. Er geht ausführlich auf die Meisterhaftigkeit der Darbietungen ein und sagt, er habe gehört, der Zirkus folge keiner festgelegten Reiseroute, aber er hoffe, dass er irgendwann nach Deutschland komme.
    Ein paar Wochen später erhält er einen Brief von M. Lefèvres Assistent, in dem es heißt, M. Lefèvre wisse Herrn Thiessens Komplimente zu schätzen, zumal sie von einem so begabten Künstler kämen. Der Brief lobt die Uhr in den höchsten Tönen und erwähnt, dass man beim Auftreten etwaiger Probleme sofort Kontakt mit ihm aufnehmen werde.
    Zu Herrn Thiessens großer Enttäuschung steht in dem Brief nichts über den derzeitigen Aufenthaltsort des Zirkus oder einen geplanten Besuch in Deutschland.
    Er muss oft an den Zirkus denken, und die ständige Beschäftigung damit schlägt sich im Laufe der Zeit in seiner Arbeit nieder. Viele seiner neuen Uhren fertigt er in Schwarzweiß, einige mit Streifen und etliche mit Szenen aus dem Zirkus: winzige Akrobaten, kleine Schneeleoparden, eine Wahrsagerin, die pünktlich zu jeder Stunde klitzekleine Tarotkarten legt.
    Und dennoch fürchtet er immer, dass seine Uhren dem Zirkus nicht gerecht werden.

Unter Aufsicht
    KAIRO, NOVEMBER 1890
    D ie meiste Zeit dürfen die Murray-Zwillinge unbeaufsichtigt hinter den Kulissen herumtoben, einem in Nischen und Gänge aufgeteilten Gelände von der Größe eines weitläufigen Hauses, auf dem die Zirkusbewohner zwischen den Auftritten leben. Wenn sie jedoch während der Vorstellungszeiten unterwegs sein wollen, stehen sie unter der Aufsicht einer Betreuerin. Obwohl sie oft und laut gegen diese Regel protestieren, besteht ihr Vater darauf, dass sie eingehalten wird, bis sie mindestens acht Jahre alt sind.
    Widget fragt oft, ob man nicht ihre zwei mal vier Jahre zusammenzählen könne, dann würden sie das Kriterium erfüllen.
    Als die einzigen Kinder in einem recht unkonventionellen Haushalt bekommen sie immer wieder zu hören, dass ihr Abend eine gewisse Ordnung brauche.
    Zurzeit genießen sie die Gesellschaft wechselnder Betreuerinnen, und heute Abend hat die Zauberin Zwillingsdienst. Man überträgt ihr diese Rolle nicht oft, obwohl Widget und Poppet sie sehr gern mögen. Heute jedoch hat sie zwischen ihren Auftritten genügend Zeit und kann die beiden eine Weile begleiten.
    Keiner der Besucher erkennt Celia ohne ihren Zylinder und das schwarzweiße Kleid, selbst die nicht, die früher am Abend in ihrer Vorstellung waren. Wenn sie überhaupt von Passanten beachtet wird, dann nur, weil sie sich fragen, wie die Kinder in ihrer Obhut so rotes Haar haben können, wenn ihres so dunkel ist. Davon abgesehen wirkt sie wie eine gewöhnliche junge Frau im blauen Mantel, die wie jeder andere Besucher durch den Zirkus streift.
    Zuerst gehen sie in den Eisgarten, aber das gemächliche Tempo, in dem Celia gern zwischen den gefrorenen Bäumen umherspaziert,

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