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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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lässt die Zwillinge schnell ungeduldig werden. Noch ehe sie halb durch sind, quengeln sie und wollen Karussell fahren.
    Sie streiten sich, wer auf dem Greif sitzen darf, aber als Celia ihnen die Geschichte vom neunschwänzigen Fuchs dahinter erzählt, wird der gleich viel reizvoller, und Widget gibt nach. Kaum sind sie abgestiegen, wollen sie noch einmal fahren. Für die zweite Runde durch die Schleifen und Tunnel des silbernen Uhrwerks setzen sie sich ohne Gezanke auf eine Schlange und ein Kaninchen.
    Nach dem Karussellfahren möchte Widget etwas essen, deshalb gehen sie zum großen Platz. Als Celia ihm eine schwarzweiß gestreifte Papiertüte mit Popcorn besorgt, will er unbedingt Karamellsauce dazu.
    Der Verkäufer, der Äpfel am Stiel in dunkle, klebrige Zuckermasse taucht, tut ihm den Gefallen und träufelt ihm welche obendrauf. Ein paar danebenstehende Besucher verlangen dasselbe.
    Poppet behauptet, sie habe keinen Hunger. Sie wirkt zerstreut, und als sie vom Platz auf einen ruhigeren Pfad abbiegen, fragt Celia, ob etwas nicht stimme.
    »Ich will nicht, dass die nette Frau stirbt«, sagt Poppet und zupft leicht an Celias Rock.
    Celia bleibt stehen und hält Widget, der ganz auf sein Popcorn konzentriert weitertrottet, von hinten fest.
    »Wie meinst du das, Herzchen?«, fragt sie Poppet.
    »Sie legen sie in die Erde«, erklärt Poppet. »Das finde ich traurig.«
    »Welche nette Frau?«
    Poppet verzieht nachdenklich das Gesicht.
    »Ich weiß nicht«, antwortet sie. »Sie sehen sich so ähnlich.«
    »Poppet, Kleines«, sagt Celia, zieht die Zwillinge in eine Nische und beugt sich vor, um mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen. »Wo ist diese Frau in der Erde? Ich meine, wo hast du sie gesehen?«
    »In den Sternen«, sagt Poppet. Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und zeigt nach oben.
    Celia blickt in den sternenübersäten Himmel, wo der Mond hinter einer Wolke verschwindet, und richtet ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf Poppet.
    »Siehst du oft Sachen in den Sternen?«, fragt sie.
    »Nur manchmal«, antwortet Poppet. »Widge sieht Sachen an Leuten.«
    Celia dreht sich zu Widget, der mit klebrigen Fingern sein karamellbeträufeltes Popcorn isst.
    »Du siehst Sachen an Leuten?«, fragt sie ihn.
    »Mampfmal«, sagt er mit vollem Mund.
    »Was für Sachen?«
    Widget zuckt die Schultern. »Wo sie gewesen sind. Was sie gemacht haben.«
    Er schiebt sich noch eine Handvoll Popcorn in den Mund.
    »Interessant«, sagt Celia. Die Zwillinge haben ihr schon häufiger merkwürdige Dinge erzählt, aber hier scheint es sich um mehr zu handeln als kindliche Phantasien. »Siehst du auch was an mir?«, fragt sie Widget.
    Widget sieht sie kauend aus zusammengekniffenen Augen an.
    »Zimmer, die nach Puder und alten Kleidern riechen«, sagt er. »Eine Frau, die immerzu weint. Ein gespenstischer Mann mit einem Rüschenhemd, der dir überallhin folgt und –«
    Widget verstummt plötzlich und runzelt die Stirn.
    »Du hast es weggemacht«, sagt er. »Jetzt ist nichts mehr da. Wie hast du das gemacht?«
    »Manches ist nicht für deine Augen bestimmt«, sagt Celia.
    Widget schiebt seine Unterlippe zu einer beeindruckenden Schnute vor, aber nur so lange, bis er sich die nächste Ladung Popcorn in den Mund schiebt.
    Celia blickt von den Zwillingen zurück zum Platz. Der Feuerschein zwischen den Zelten wirft tanzende Schatten von Besuchern auf den Streifenstoff.
    Das Feuer erlischt nie. Die Flammen werden nie schwächer.
    Selbst wenn der Zirkus weiterzieht, wird es nicht gelöscht, sondern von Ort zu Ort mitgenommen. Auf jeder Zugreise glimmt es die ganze Zeit sicher in seinem Eisenkessel.
    Seit der Feuerzeremonie am Eröffnungsabend hat es beständig gebrannt.
    Mit dem Entfachen des Feuers, da ist Celia sicher, wurde etwas in Gang gesetzt, das sich auf den gesamten Zirkus und alle daran Beteiligten ausgewirkt hat.
    Auch auf die gerade geborenen Zwillinge.
    Auf Widget, der kurz vor Mitternacht zur Welt kam, am Ende eines alten Tages. Und auf Poppet, die ihm nur wenig später in einen neuen Tag folgte.
    »Poppet«, sagt Celia und dreht sich wieder zu dem Mädchen, das mit dem Ärmelaufschlag seiner Jacke spielt, »wenn du Sachen in den Sternen siehst, die du vielleicht für wichtig hältst, möchte ich, dass du mir davon erzählst, verstehst du?«
    Poppet nickt feierlich, und ihre dicken roten Haare schaukeln wie Wellen. Dann beugt sie sich mit sehr ernstem Blick vor, um Celia eine Frage zu stellen. »Darf ich einen Karamellapfel

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