Der Nachtzirkus
Schokolade. Stundenlang reden sie von dem einzigartigen Licht und der Wärme des Feuers. Mit seligem Kinderlächeln sitzen sie über ihren Drinks und genießen die Gesellschaft von Geistesverwandten, und sei es nur für einen Abend. Zum Abschied schütteln sie einander die Hand und umarmen sich wie alte Freunde, auch wenn sie sich eben erst kennengelernt haben. Wenn sie dann ihrer getrennten Wege ziehen, fühlen sie sich nicht mehr so allein wie zuvor.
Der Zirkus weiß von ihnen und schätzt sie. Oft wird jemand, der in schwarzem Mantel mit rotem Schal zur Kasse kommt, ohne Eintritt durchgewunken und erhält einen Becher Apfelmost oder eine Tüte Popcorn umsonst. Wenn die Zirkuskünstler sie im Publikum entdecken, zeigen sie ihre besten Tricks. Manche rêveurs wandern systematisch durch den ganzen Zirkus, besuchen jedes Zelt und sehen sich alle Vorführungen an. Andere haben ihre Lieblingsplätze, die sie nur selten verlassen, und verbringen die ganze Nacht in der Menagerie oder im Spiegelgang. Sie bleiben bis in die frühen Morgenstunden, wenn die meisten Besucher schon in ihren Betten liegen.
Kurz vor Tagesanbruch sind im Cirque des Rêves oft keine Farben mehr zu sehen, nur noch ihre kleinen purpurroten Tupfer.
*
Herr Thiessen bekommt Aberdutzende Briefe von anderen rêveurs, und er beantwortet jeden. Häufig bleibt es bei einem Brief, weil der Adressat mit der Antwort zufrieden ist, mit anderen dagegen ergibt sich ein längerer Austausch, so dass ganze Sammlungen fortdauernder Gespräche entstehen.
Heute antwortet er auf einen Brief, den er besonders faszinierend findet. Die Verfasserin schreibt mit erstaunlicher Genauigkeit über den Zirkus. Außerdem ist der Brief persönlicher als die meisten, befasst sich eingehend mit seinen Artikeln und enthält so detaillierte Äußerungen zu seiner Wunschtraumuhr , dass die Verfasserin sie stundenlang betrachtet haben muss. Er liest den Brief dreimal, bevor er sich an den Schreibtisch setzt, um seine Antwort abzufassen.
Der Poststempel ist aus New York, aber die Unterschrift gehört keiner rêveuse , der er dort oder in irgendeiner anderen Stadt begegnet ist.
Liebe Miss Bowen , beginnt er.
Er hofft, dass er im Gegenzug wieder einen Brief erhält.
Gemeinschaftswerke
SEPTEMBER – DEZEMBER 1893
M arco erreicht das Londoner Büro von Mr Barris nur wenige Minuten vor dem vereinbarten Termin und ist erstaunt, dass sich die sonst so ordentliche Wohnung in einem fast chaotischen Zustand befindet, voll mit halbgepackten Kisten und Stapeln von Schachteln. Der Schreibtisch ist unter dem ganzen Durcheinander begraben und nicht mehr zu sehen.
»Ist es schon so spät?«, fragt Mr Barris, als Marco an die geöffnete Tür klopft und aufgrund des vollgestellten Fußbodens nicht eintreten kann. »Ich hätte die Uhr nicht einpacken sollen, sie ist in einer der Kisten.« Er zeigt auf eine Reihe großer Holzkisten an der Wand – ob es in einer allerdings tickt, ist unmöglich zu sagen. »Eigentlich wollte ich auch einen Pfad frei lassen«, fügt er hinzu, während er Schachteln beiseiteschiebt und haufenweise zusammengerollte Baupläne aufhebt.
»Tut mir leid, dass ich Sie störe«, sagt Marco. »Ich wollte mit Ihnen reden, bevor Sie die Stadt verlassen. Ich hätte warten können, bis Sie sich wieder eingerichtet haben, hielt es aber für besser, die Sache persönlich zu besprechen.«
»Natürlich«, erwidert Mr Barris. »Ich wollte Ihnen die Kopien der Zirkuspläne geben. Sie müssen irgendwo hier sein.« Er sieht den Haufen mit den Blaupausen durch, prüft Etiketten und Daten.
Die Bürotür schließt sich leise, ohne von irgendwem berührt zu werden.
»Darf ich Sie etwas fragen, Mr Barris?«
»Natürlich«, antwortet Mr Barris, der weiter Papierrollen sichtet.
»Was genau wissen Sie?«
Mr Barris legt den Plan in seiner Hand beiseite, dreht sich um und schiebt die Brille auf seinem Nasenrücken hoch, um Marco besser betrachten zu können.
»Was genau weiß ich wovon?«, fragt er nach einer etwas zu lang geratenen Pause.
»Was genau hat Miss Bowen Ihnen erzählt?«, fragt Marco zurück.
Mr Barris mustert ihn einen Augenblick lang neugierig.
»Sie sind ihr Gegner«, sagt er, und ein Lächeln erhellt sein Gesicht, als Marco nickt. »Darauf wäre ich nie gekommen.«
»Sie hat Ihnen von dem Wettstreit erzählt.«
»Nur in sehr groben Zügen«, sagt Mr Barris. »Vor einigen Jahren kam sie zu mir und fragte, was ich sagen würde, wenn ich wüsste, dass alles, was sie
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