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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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schmelzenden Schnees hinter sich her. Sie muss sich ducken, um nicht mit den von der Decke hängenden Büchern zusammenzustoßen, deren aufgeschlagene Seiten an gefrorene Wellen erinnern.
    Als sie mit einer Hand über das Papier streicht, gerät der ganze Raum leicht ins Schwanken, denn die Bewegung setzt sich von einer Seite zur nächsten fort.
    Es dauert eine Weile, bis sie in einer dunklen Ecke eine weitere Tür entdeckt, und als ihre Stiefel im Raum dahinter in pulverweichem Sand versinken, muss sie herzhaft lachen.
    Celia steht in einer schimmernden weißen Wüste, umgeben von einem weiten funkelnden Nachthimmel. Das Gefühl von Raum ist so gewaltig, dass sie die Hand ausstrecken muss, um die in den Sternen verborgene Wand zu finden, und sie ist immer noch verblüfft, als ihre Finger die feste Fläche berühren.
    Auf der Suche nach einem weiteren Ausgang tastet sie sich an den sternenübersäten Wänden entlang.
    »Das ist abscheulich«, sagt die Stimme ihres Vaters, den sie im Dämmerlicht nicht sehen kann. »Du sollst allein arbeiten, nicht in diesem … diesem korrumpierten Nebeneinander. Ich habe dich davor gewarnt, gemeinsam mit anderen zu arbeiten. Es ist der falsche Weg, um deine Fähigkeiten zu beweisen.«
    »Ich halte es für ziemlich klug«, sagt Celia seufzend. »Gibt es eine bessere Möglichkeit, als im gleichen Zelt gegen seinen Kontrahenten anzutreten? Und im Grunde ist es keine Zusammenarbeit. Wie kann ich mit jemandem zusammenarbeiten, den ich gar nicht kenne?«
    Sie erhascht nur einen kurzen Blick auf sein böses Gesicht, dann wendet sie sich ab und widmet ihre Aufmerksamkeit wieder der Wand.
    »Was ist denn besser?«, fragt sie. »Ein Raum voller Bäume oder ein Raum voller Sand? Weißt du überhaupt, was von mir stammt? Langsam bin ich es leid, Papa. Mein Gegner verfügt offenbar über vergleichbare Fähigkeiten. Wie willst du jemals einen Gewinner bestimmen?«
    »Das soll deine Sorge nicht sein«, faucht ihr Vater näher an ihrem Ohr, als ihr lieb ist. »Du bist eine Enttäuschung, ich habe mehr von dir erwartet. Du musst mehr tun.«
    »Mehr tun ist anstrengend«, protestiert Celia. »Meine Fähigkeit, Dinge zu kontrollieren, ist begrenzt.«
    »Es reicht nicht«, sagt ihr Vater.
    »Wann reicht es denn?«, fragt sie, doch die Antwort bleibt aus, und sie steht allein unter den Sternen.
    Celia sinkt zu Boden, hebt eine Handvoll perlweißen Sand auf und lässt ihn langsam durch ihre Finger rieseln.
    *
    Marco ist allein in seiner Wohnung und bastelt winzige Zimmer aus Papierschnipseln. Gänge und Türen aus Buchseiten und Bauplänen, Tapetenfetzen und Brieffragmenten.
    Er setzt Kammern zusammen, die in andere, von Celia geschaffene führen. Treppen, die sich um ihre Gänge winden.
    Und er lässt Räume offen, um ihr die Möglichkeit für Ergänzungen zu geben.

Das Ticken der Uhr
    WIEN, JANUAR 1894
    D as Büro ist groß, wirkt aber aufgrund der Menge seines Inhalts kleiner, als es ist. Die vorwiegend aus Milchglas bestehenden Wände werden größtenteils von Schränken und Regalen verdeckt. Der Zeichentisch am Fenster verschwindet völlig unter dem penibel geordneten Chaos aus Papieren, Diagrammen und Bauplänen. Der Mann mit der Brille, der dahinter sitzt, passt optisch so gut in seine Umgebung, dass er fast nicht zu sehen ist. Das Kratzen seines Bleistifts auf Papier ist so rhythmisch und präzise wie das Ticken der Uhr in der Ecke.
    Der kratzende Bleistift hält inne, als es an der Milchglastür klopft, die Uhr dagegen tickt ungestört weiter.
    »Eine Miss Burgess möchte Sie sprechen«, ruft ein Assistent von der offenen Tür aus. »Sie sagt, sie möchte Sie nicht stören, wenn Sie anderweitig beschäftigt sind.«
    »Sie stört überhaupt nicht«, sagt Mr Barris, legt den Bleistift ab und erhebt sich vom Stuhl. »Schick sie bitte herein.«
    Der Assistent gibt die Tür frei und wird durch eine junge Frau in einem eleganten Spitzenkleid ersetzt.
    »Hallo, Ethan«, sagt Tara Burgess. »Entschuldige, dass ich so unangekündigt hereinplatze.«
    »Du musst dich nicht entschuldigen, meine liebe Tara. Du siehst hübsch aus, wie immer.« Mr Barris küsst sie auf beide Wangen.
    »Und du bist keinen Tag älter geworden«, erwidert Tara spitz. Sein Lächeln erstarrt, und er blickt zur Seite, dann schließt er hinter ihr die Tür.
    »Was führt dich nach Wien?«, fragt er. »Und wo ist deine Schwester? Ich sehe euch zwei selten getrennt.«
    »Lainie ist mit dem Zirkus in Dublin«, sagt Tara und

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