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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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begutachtet interessiert den Raum. »Ich … ich war nicht in der Stimmung und dachte mir, ich reise mal ein bisschen allein. Weit entfernte Freunde zu besuchen schien mir ein guter Anfang zu sein. Ich hätte gern ein Telegramm geschickt, aber alles kam ziemlich spontan. Außerdem war ich mir nicht ganz sicher, ob ich willkommen bin.«
    »Du bist immer willkommen, Tara«, sagt Mr Barris. Er bietet ihr einen Platz an, aber das bemerkt sie nicht, weil sie die detaillierten Hausmodelle auf den Tischen inspiziert und gelegentlich stehen bleibt, um eine Einzelheit näher zu untersuchen: den Bogen einer Tür, die Spirale einer Treppe.
    »Ich glaube, in Fällen wie unseren wird es zunehmend schwer, zwischen alten Freunden und Geschäftspartnern zu unterscheiden«, sagt Tara. »Ob wir Leute sind, die sich höflich unterhalten, um gemeinsam gehütete Geheimnisse zu überdecken, oder ob wir mehr sind als das. Das hier ist wunderschön.« Sie verweilt beim Modell einer kunstvollen offenen Säule, in deren Mitte eine Uhr hängt.
    »Danke«, sagt Mr Barris. »Es ist noch lange nicht fertig. Ich muss die Pläne an Friedrick schicken, damit er mit dem Bau der Uhr anfangen kann. Ich nehme an, das maßstabsgetreue Exemplar wird noch viel beeindruckender sein.«
    »Hast du die Pläne für den Zirkus hier?«, fragt Tara und überfliegt die an die Wand gepinnten Schaubilder.
    »Nein, leider nicht. Ich habe sie in London bei Marco gelassen. Eigentlich wollte ich Kopien aufbewahren, aber das habe ich wohl vergessen.«
    »Hast du auch vergessen, Kopien von deinen anderen Bauplänen aufzubewahren?«, fragt Tara und fährt mit einem Finger die Schränke entlang, die mit langen dünnen Borden ausgestattet sind, auf denen Haufen von sorgsam geordneten Papieren liegen.
    »Nein«, sagt Mr Barris.
    »Findest du … findest du das nicht merkwürdig?«, fragt Tara.
    »Eigentlich nicht. Findest du das merkwürdig?«
    »Ich finde vieles am Zirkus merkwürdig«, sagt Tara und spielt an der Spitze ihres Ärmelaufschlags herum.
    Mr Barris nimmt an seinem Schreibtisch Platz und lehnt sich im Stuhl zurück.
    »Wollen wir vielleicht über das reden, weswegen du hier bist, anstatt drum herumzutanzen?«, fragt er. »Ich war nie ein besonders guter Tänzer.«
    »Ich weiß genau, dass das nicht stimmt.« Tara setzt sich in den Stuhl gegenüber und lässt den Blick weiter durch den Raum schweifen. »Aber es wäre schön, ausnahmsweise mal wieder offen zu sein. Manchmal frage ich mich, ob wir überhaupt noch wissen, was Offenheit ist. Warum bist du aus London fort?«
    »Wahrscheinlich aus den gleichen Gründen, die dich und deine Schwester so oft reisen lassen«, sagt Mr Barris. »Ein paar zu viele neugierige Blicke und zweifelhafte Komplimente. Dass der Tag, an dem mein Haar aufgehört hat, dünner zu werden, mit dem Tag der Zirkuseröffnung zusammenfiel, hat vermutlich niemand gemerkt. Aber einigen ist es irgendwann aufgefallen. Unsere Tante Padva mag einfach nur gut altern, und an Chandresh kann man alles und jedes als exzentrisch abtun, aber wir unterliegen einer strengeren Beobachtung, weil wir dem Normalen etwas näher sind.«
    »Für die, die einfach im Zirkus verschwinden können, ist es leichter«, sagt Tara und sieht aus dem Fenster. »Manchmal schlägt Lainie vor, dass wir ebenfalls mit dem Zirkus reisen sollten, aber das wäre nur eine vorübergehende Lösung, dafür sind wir zu flatterhaft.«
    »Ihr könntet einfach aussteigen«, sagt Mr Barris leise.
    Tara schüttelt den Kopf.
    »Wie lange mag es noch dauern, bis es nicht mehr genügt, ständig die Stadt zu wechseln? Was ist dann die Lösung? Sollen wir unsere Namen ändern? Mir … mir gefallen solche erzwungenen Täuschungsmanöver nicht.«
    »Ich weiß nicht«, sagt Mr Barris.
    »Es geht um weitaus mehr, als wir wissen, da bin ich ganz sicher«, sagt Tara seufzend. »Ich wollte mit Chandresh darüber reden, aber es war, als würden wir zwei verschiedene Sprachen sprechen. Ich sitze nicht gern tatenlos dabei, wenn etwas absolut falsch läuft. Ich fühle mich … nicht gefangen, aber so etwas in der Art, und ich weiß nicht, was ich dagegen tun kann.«
    »Du suchst Antworten«, sagt Mr Barris.
    »Ich weiß nicht, was ich suche«, erwidert Tara. Ihr Gesicht verzieht sich kurz, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, aber dann sammelt sie sich wieder. »Ethan, hast du manchmal auch das Gefühl, dass du nur noch träumst?«
    »Nein, das kann ich nicht behaupten.«
    »Mir fällt es zunehmend

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