Der Nachtzirkus
wieder, ohne die Karten eines Blickes zu würdigen.
»Wie hast du das gemacht?«, fragt Isobel.
»Ich habe sie abgelenkt«, erwidert Celia und bläst vorsichtig auf ihren dampfenden Tee. Eigentlich entspricht das nicht ganz der Wahrheit, aber zu erklären, dass sie einen unsichtbaren Schleier über die Karten gezogen hat, findet sie zu kompliziert. Außerdem beunruhigt sie noch immer das Gefühl, dass sie trotz des Schleiers beobachtet werden.
Isobel legt die Karten verdeckt auf den Tisch.
Ohne Isobels Aufforderung abzuwarten, bildet Celia drei Stapel und legt sie behutsam in einer Reihe auf den Tisch.
»Welcher?«, fragt Isobel.
Celia mustert nachdenklich die drei Stapel und nippt an ihrem Tee. Nach einer Weile zeigt sie auf den mittleren. Isobel packt die Karten wieder zusammen und legt den ausgewählten Stapel obenauf.
Die Karten, die sie nun auf den Tisch legt, erschließen sich ihr nicht sofort. Mehrere Kelche. Die zwei Schwerter. La Papesse , die Päpstin.
Isobel verschlägt es fast den Atem, als sie Le Bateleur über die aufgedeckten Karten legt. Sie überspielt es mit einem Husten. Celia scheint nichts zu bemerken.
»Tut mir leid«, sagt sie, nachdem sie die Karten eine Zeitlang stumm betrachtet hat. »Manchmal dauert es eine Weile, bis ich sie richtig deuten kann.«
»Lass dir Zeit«, sagt Celia.
Isobel schiebt die Karten auf dem Tisch umher, konzentriert sich auf eine, dann auf eine andere.
»Du trägst viele Lasten mit dir. Ein schweres Herz. Verluste. Aber du bewegst dich in Richtung Veränderung und Entdeckung. Da sind äußere Einflüsse, die dich vorantreiben.«
Celias Miene verrät nichts. Sie betrachtet die Karten und sieht manchmal zu Isobel hoch – aufmerksam, aber vorsichtig.
»Du musst … nicht kämpfen, nein, das ist nicht das richtige Wort, aber das ist ein Kampf mit etwas Unsichtbarem, etwas Dunklem, das vor dir verborgen ist.«
Celia lächelt nur.
Isobel legt eine weitere Karte auf den Tisch.
»Aber bald wirst du mehr wissen«, sagt sie.
Dieser Satz lässt Celia aufhorchen.
»Wie bald?«
»Die Karten sagen keinen genauen Zeitpunkt, aber es ist kurz davor. Es ist fast so weit, würde ich sagen.«
Isobel zieht noch eine Karte. Wieder die zwei Kelche.
»Da ist Gefühl«, sagt sie. »Tiefes Gefühl. Du stehst zwar erst am Anfang, bist noch nah an der Oberfläche, aber es wartet darauf, dich nach unten zu ziehen.«
»Interessant«, bemerkt Celia.
»Ich sehe das nicht eindeutig als gut oder schlecht, aber es ist … intensiv.« Isobel schiebt die Karten wieder ein wenig umher, Le Bateleur und La Papesse sind nun umgeben von Stäben und Kelchen. Das Knistern des Feuers in ihrer Nähe vermischt sich mit dem Regen, der gegen die Fenster prasselt. »Das ist fast ein Widerspruch«, sagt sie nach einer Weile. »Als wären da Liebe und Verlust gleichzeitig, zusammen in einer Art schönem Schmerz.«
»Na, das sind doch schöne Aussichten«, sagt Celia trocken. Isobel lächelt und blickt zu ihr auf, findet aber keine Regung in Celias Gesicht.
»Es tut mir leid, dass ich nicht deutlicher sein kann«, sagt sie. »Wenn mir später noch was einfällt, gebe ich dir Bescheid. Manchmal muss ich über die Karten nachdenken, bevor ich aus ihnen schlau werde. Die hier sind … nicht direkt unklar, aber komplex, darum sind ziemlich viele Möglichkeiten zu bedenken.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin wirklich nicht sonderlich überrascht. Und danke, ich freue mich sehr über den Einblick.«
Dann wechselt Celia das Thema, während die Karten auf dem Tisch bleiben und Isobel keine Anstalten macht, sie einzupacken. Sie unterhalten sich über belanglose Dinge, bis Celia irgendwann sagt, sie müsse jetzt langsam zum Zirkus zurück.
»Warte doch wenigstens, bis der Regen nachlässt«, protestiert Isobel.
»Ich habe dich schon lange genug vereinnahmt, und Regen ist nur Regen. Ich hoffe, der Jemand, auf den du wartest, kommt noch.«
»Das bezweifle ich, aber danke. Und danke, dass du mir Gesellschaft geleistet hast.«
»War mir ein Vergnügen«, sagt Celia, steht auf und zieht ihre Handschuhe an. Dann bahnt sie sich beschwingt einen Weg durch das volle Café, nimmt an der Tür einen Schirm mit dunklem Griff aus dem Ständer und winkt Isobel zum Abschied zu, bevor sie sich im strömenden Regen auf den Rückweg zum Zirkus macht.
Isobel schiebt die durcheinandergeratenen Karten wieder zusammen. Sie hat nicht wirklich gelogen. Beim Kartenlegen kann sie nicht lügen. Aber eines ist
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