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Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
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unverwechselbaren grauen Anzug neben ihr.
    »Guten Tag«, gibt sie zurück.
    »Haben Sie mich gesucht?«
    »Das habe ich tatsächlich.« Tara will ihm erklären, dass Mr Barris sie geschickt hat, und greift in ihre Tasche, aber sie findet die Karte nicht und hält verwirrt inne.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragt der Mann im grauen Anzug.
    »Ja«, sagt Tara, nunmehr verunsichert, ob sie die Karte überhaupt dabeihatte oder ob sie noch auf dem Tisch im Salon liegt. »Ich wollte mit Ihnen über den Zirkus sprechen.«
    »Schön«, sagt er und wartet, dass sie beginnt. Seine Miene verrät nicht gerade das, was man gespanntes Interesse nennen könnte.
    Sie bemüht sich, ihm ihr Anliegen zu erklären. Dass sich hinter dem Zirkus mehr verbirgt, als die meisten wissen. Dass sie für manches keine vernünftige Erklärung findet. Sie wiederholt einige Punkte, die sie schon Mr Barris dargelegt hat. Ihre Besorgnis darüber, nicht beurteilen zu können, ob überhaupt etwas davon Realität ist. Wie beunruhigend es ist, in den Spiegel zu blicken und das eigene Gesicht über die Jahre hinweg unverändert zu sehen.
    Da es ihr schwerfällt, ihre Gedanken genau zu formulieren, gerät sie häufig ins Stocken.
    Seine Miene wirkt nicht interessierter als zuvor.
    »Was möchten Sie denn nun von mir, Miss Burgess?«, fragt er, als sie fertig ist.
    »Ich hätte gern eine Erklärung.«
    Er betrachtet sie eine Weile mit derselben unveränderten Miene.
    »Der Zirkus ist nur ein Zirkus«, sagt er. »Eine eindrucksvolle Schau, aber nicht mehr. Sind wir uns da nicht einig?«
    Tara nickt, ohne seine Antwort ganz aufgenommen zu haben. »Müssen Sie nicht zum Zug, Miss Burgess?«, fragt er.
    »Ja«, antwortet Tara. Ihren Zug hatte sie ganz vergessen. Sie überlegt, wie spät es wohl ist, kann aber nirgends eine Uhr entdecken.
    »Ich wollte auch gerade zum Bahnhof, wenn Sie nichts gegen einen Begleiter haben.«
    Zusammen gehen sie zu Fuß die kurze Strecke vom Hotel zu den Bahnsteigen. Er hält Türen für sie auf und macht nichtssagende Bemerkungen über das Wetter.
    »Ich glaube, es wäre in Ihrem eigenen besten Interesse, wenn Sie die Zeit mit etwas anderem verbrächten«, sagt er, als sie die Züge erreichen. »Etwas, das Ihre Gedanken vom Zirkus ablenkt. Meinen Sie nicht auch?«
    Tara nickt wieder.
    »Guten Tag, Miss Burgess.« Er zieht seinen Hut.
    »Guten Tag«, wiederholt sie.
    Dann lässt er sie auf dem Bahnsteig stehen, und als sie sich nach ihm umdreht, ist der graue Anzug in der Menschenmenge nirgends mehr zu sehen.
    Tara steht an der Kante des Bahnsteigs und wartet auf ihren Zug. Sie kann sich nicht entsinnen, Mr A. H— gesagt zu haben, welchen Zug sie nehmen würde, und trotzdem hat er sie zum richtigen Bahnsteig gebracht.
    Ihr ist, als hätte sie noch etwas anderes fragen wollen, aber ihr fällt nicht mehr ein, was es war. Überhaupt erinnert sie sich kaum noch an die Unterhaltung, außer an die Bemerkung, dass sie ihre Zeit mit etwas anderem verbringen sollte, mit einer Sache, die ihre Aufmerksamkeit eher verdiene.
    Darüber denkt sie nach, als ihr etwas Graues auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig ins Auge sticht.
    Mr A. H— steht in einer dunklen Ecke, aber Tara ist sich trotz der Entfernung und der Schatten ganz sicher, dass er mit jemandem streitet, den sie nicht sieht.
    Andere Leute gehen vorbei, ohne zu den beiden hinzublicken.
    Dann fällt mehr Licht durch die gewölbten Glasscheiben im Dach, und Tara sieht, mit wem Mr A. H— streitet.
    Der Mann ist nicht ganz so groß, sein Hut sitzt eine Stufe tiefer als der graue, so dass Tara den Mann zunächst nur für ein Spiegelbild hält und es merkwürdig findet, dass Mr A. H— sich mitten in einem Bahnhof mit seinem Spiegelbild streitet.
    Doch sein Anzug ist eindeutig dunkler. Und die Haare des Spiegelbilds sind länger, auch wenn sie einen ähnlichen Grauton haben.
    Durch den Dampf und die Menge erkennt Tara den hellen Spitzenbesatz an den Manschetten, die dunklen Augen, die stärker leuchten als der Rest des Gesichts. Hin und wieder ist etwas deutlich zu erkennen, aber immer nur für kurze Zeit, dann löst es sich wieder in verzerrte Schatten auf.
    Als sich das einfallende Licht erneut verändert, hat Tara das Gefühl, wie durch einen Hitzeschleier zu sehen, so dass die kleinere Gestalt zu flimmern beginnt. Mr A. H— dagegen bleibt vergleichsweise scharf.
    Tara tritt einen Schritt vor, ihr Blick ist auf den Bahnsteig gegenüber gerichtet.
    Den Zug sieht sie

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