Der Nachtzirkus
Die Wände sind bedeckt mit Schaubildern: weiße Punkten und Linien auf schwarzem Papier, gerahmte Karten von Sternkonstellationen.
»Ist das wie bei der Wahrsagerin, wenn sie die Bilder auf den Karten liest?«, fragt Bailey, der noch immer zu begreifen versucht, dass man die Zukunft vorhersehen kann.
»So ähnlich, aber anders«, sagt Poppet. »Ich kann kein Tarot lesen, Widget schon.«
»Das sind Geschichten auf Papier«, erklärt Widget mit einem Schulterzucken. »Man sieht, wie die Geschichten auf den einzelnen Karten zusammenpassen, das ist nicht so schwer. Aber bei den Karten gibt es immer viele Möglichkeiten, und sie zeigen verschiedene Wege auf. Poppet dagegen sieht Dinge, die wirklich passieren.«
»Aber nicht so klar«, sagt Poppet. »Es gibt keinen Zusammenhang, und bestimmte Dinge kann ich oft erst später deuten. Manchmal ist es dann schon zu spät.«
»Haftungsausschluss angenommen, Pet«, sagt Widget und drückt ihr die Schulter. »Wir können auch einfach nur so damit fahren, wenn dir das lieber ist.«
Oben an der Treppe ist es unendlich dunkel, nur der Zirkusmitarbeiter, der die Besucher hineinführt, trägt einen weißen Anzug. Mit einem neugierigen Seitenblick auf Bailey lächelt er Poppet und Widget zu, dann begleitet er sie zu etwas Ähnlichem wie einem Schlitten oder einer Kutsche.
Sie nehmen auf einer gepolsterten Bank mit hoher Rückenlehne und Armstützen Platz, und während Poppet es sich zwischen Bailey und Widget gemütlich macht, schließt sich die Tür auf einer Seite. Das Gefährt gleitet langsam vorwärts, in völlige Dunkelheit.
Ein leises Klicken ertönt. Die Kabine senkt sich leicht und kippt gleichzeitig nach hinten, so dass sie nicht mehr nach vorne, sondern nach oben schauen.
Das Zelt hat kein Dach, stellt Bailey fest. Es ist nach oben hin offen und gibt den Blick auf den Nachthimmel frei.
Bailey hat schon oft auf einer Wiese gelegen und die Sterne betrachtet, aber dies hier ist anders. An den Rändern sind keine Bäume zu sehen, und in der sanft schaukelnden Kabine fühlt er sich beinahe schwerelos.
Außerdem ist es unglaublich still. Während die Kabine sich im Kreis bewegt – so jedenfalls kommt es Bailey vor –, hört er nur ein leises Quietschen und neben sich Poppets Atem. Es ist, als hätte sich der ganze Zirkus in Dunkelheit aufgelöst.
Er schaut zu Poppet, die nicht den Himmel, sondern ihn betrachtet. Sie grinst ihn an, dann dreht sie sich weg.
Bailey überlegt, ob er sie fragen soll, was sie in den Sternen sieht.
»Du musst nicht, wenn du nicht willst.« Widget kommt ihm mit der Frage zuvor.
Poppet dreht sich zu ihm und schneidet eine Grimasse, aber dann richtet sie den Blick nach oben und schaut in den klaren Nachthimmel. Bailey beobachtet sie aufmerksam. Mit ihren leicht zusammengekniffenen Augen sieht sie aus, als betrachte sie ein Gemälde oder lese ein Schild aus großer Entfernung.
Plötzlich schlägt sie die Hände vors Gesicht und presst ihre weiß behandschuhten Finger auf die Augen. Widget legt ihr eine Hand auf die Schulter.
»Ist alles in Ordnung?«, fragt Bailey.
Poppet holt tief Luft, bevor sie nickt, lässt die Hände aber weiter auf ihrem Gesicht liegen.
»Mir geht es gut«, sagt sie mit gedämpfter Stimme. »Es war so … hell. Mir hat der Kopf weh getan.«
Sie nimmt die Hände vom Gesicht und schüttelt den Kopf. Ihr Unwohlsein ist offenbar verschwunden.
Während der verbleibenden Fahrt blicken alle drei nicht mehr in den sternenübersäten Himmel.
»Das tut mir leid«, sagt Bailey leise, als sie auf dem Weg zum Ausgang eine andere gewundene Treppe hinuntergehen.
»Du kannst nichts dafür«, sagt Poppet. »Ich hätte es besser wissen müssen. In letzter Zeit geht es mir öfter so mit den Sternen, sie sind ein heilloses Durcheinander und verursachen mir Kopfschmerzen. Wahrscheinlich sollte ich es eine Zeitlang bleiben lassen.«
»Du brauchst ein bisschen Aufmunterung«, sagt Widget, als sie sich wieder ins Getümmel stürzen. »Wie wär’s mit dem Wolkenlabyrinth?«
Poppet nickt, und ihre Schultern werden etwas lockerer.
»Was ist das Wolkenlabyrinth?«, fragt Bailey.
»Du kennst ja wohl die besten Zelte nicht«, sagt Widget und schüttelt den Kopf. »Du wirst noch mal kommen müssen, in einer Nacht schaffen wir sie nicht alle. Vielleicht hat Pet Kopfschmerzen bekommen, weil ihr klargeworden ist, dass wir dich durch jedes einzelne Zelt schleppen müssen, um herauszufinden, was du noch nicht gesehen hast.«
»Widge kann
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