Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Nachtzirkus

Der Nachtzirkus

Titel: Der Nachtzirkus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erin Morgenstern
Vom Netzwerk:
nie an Erzählstoff mangeln, an Geschichten, die wir anderen weitergeben.
    – Friedrick Thiessen, 1895

DIE LIEBENDEN

    Zwei Gestalten stehen vollkommen reglos auf einem Sockel inmitten der Menschenmenge, so hoch oben, dass sie von allen Seiten deutlich zu sehen sind.
    Die Frau trägt ein Kleid, das ein Hochzeitskleid für eine Ballerina sein könnte, weiß, duftig und mit schwarzen Bändern besetzt, die in der Nachtluft flattern. Ihre Beine stecken in gestreiften Strümpfen, ihre Füße in hohen schwarzen Stiefeletten. Ihr dunkles Haar ist lose hochgesteckt und mit weißen Federn geschmückt.
    Ihr Gefährte ist ein gutaussehender Mann, etwas größer als sie, in einem tadellos sitzenden schwarzen Nadelstreifenanzug. Sein Hemd ist strahlend weiß, die Krawatte schwarz und perfekt gebunden. Auf seinem Kopf sitzt ein schwarzer Bowlerhut.
    Sie stehen engumschlungen da, ohne sich zu berühren,
die Köpfe einander zugeneigt. Ihre Lippen sind im Augenblick vor (oder nach) dem Kuss erstarrt.
    Du betrachtest sie eine Weile, doch sie bewegen sich nicht. Weder Fingerspitzen noch Augenwimpern. Nichts weist darauf hin, dass sie auch nur atmen.
    »Sie können nicht echt sein«, sagt jemand in der Nähe.
    Viele Besucher sehen sie nur kurz an und gehen dann weiter, doch je länger du sie beobachtest, umso deutlicher erkennst du minimale Veränderungen in der Biegung einer Hand, die neben einem Arm schwebt, im Winkel eines perfekt ausbalancierten Beins. Jeder bewegt sich auf den anderen zu.
    Aber sie berühren sich nicht.

Dreizehn
    LONDON, FREITAG, 13 . OKTOBER 1899
    D ie große Geburtstagsfeier für den Cirque des Rêves findet nicht nach zehn Jahren statt, wie man es üblicherweise hätte erwarten können, sondern dreizehn Jahre nach der Eröffnung des Zirkus. Einige behaupten, das liege daran, dass der zehnte Geburtstag unbemerkt verstrichen war und alle erst hinterher auf den Gedanken kamen, dass es etwas zu feiern gegeben hätte.
    Der Empfang wird am Freitag, dem 13 . Oktober 1899 in Chandresh Christophe Lefèvres Haus abgehalten. Die Gästeliste ist exklusiv, nur Zirkusmitglieder und einige ausgewählte Gäste sind zugegen. Natürlich wird die Feier nicht öffentlich angekündigt, und ob sie etwas mit dem Zirkus zu tun hat, ist zwar Gegenstand einiger Spekulationen, aber nicht verbürgt. Außerdem würde niemand ernsthaft den schwarzweißen Zirkus mit einem so farbenfrohen Ereignis in Verbindung bringen.
    Es ist ein wahres Farbenmeer: Haus und Gäste präsentieren sich in allen Schattierungen des Regenbogens. Die Lampen sind besonders geschmückt, in einem Zimmer leuchten sie grün und blau, im nächsten rot und orange. Auf den Tischen im Speisezimmer liegen lebhaft gemusterte Tücher. Die Hauptattraktion jedoch sind die aufwendigen Blumenarrangements mit ausschließlich hellen Blüten. Die Musiker, die eigenartige, aber tanzbare Stücke im Ballsaal spielen, tragen Anzüge aus rotem Samt. Selbst die Champagnerflöten sind nicht durchsichtig, sondern aus dunklem Kobaltblau, und das Personal trägt Grün statt Schwarz. Chandresh selbst gibt sich in einem knallvioletten Anzug und einer Weste mit goldfarbenem Paisleymuster die Ehre, und während des gesamten Abends raucht er speziell gedrehte Zigarren, die passend violetten Rauch verströmen.
    Im vergoldeten Schoß der Statue mit dem Elefantenkopf im Foyer prangen Rosen in allen erdenklichen Farbnuancen von natürlich bis unvorstellbar, und immer wenn jemand vorbeigeht, regnet es Blütenblätter.
    An der Bar werden Cocktails in merkwürdig geformten und getönten Gläsern serviert. Es gibt rubinroten Wein und trüb-grünen Absinth. Tapisserien aus leuchtenden Seidenstoffen hängen an den Wänden und sind über alle Möbel drapiert. Die Kerzen in den Wandleuchtern aus Buntglas werfen tanzende Lichter über die Feier und ihre Besucher.
    Poppet und Widget sind so alt wie der Zirkus und damit die jüngsten Gäste. Ihr rotes Haar leuchtet in voller Pracht, und sie tragen aufeinander abgestimmte Kleidung im warmen Blau eines Dämmerlichthimmels mit rosa und gelben Bordüren. Zum Geburtstag schenkt Chandresh ihnen zwei flauschige orangefarbene Kätzchen mit blauen Augen und gestreiften Halsbändern. Poppet und Widget sind hingerissen und nennen sie spontan Bootes und Pavo. Später wissen sie allerdings nicht mehr, welches der beiden gleich aussehenden Kätzchen welches ist, und wenden sich darum meistens an beide.
    Mit Ausnahme der verstorbenen Tara Burgess sind alle ursprünglichen

Weitere Kostenlose Bücher