Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Toben des Windes gebannt. Im gleichen Augenblick, als seine Schritte zögerlich wurden, als Furcht ihn lähmte und zum Stillstehen zwang,
spürte er zum ersten Mal die rohe Kraft des Windes. Doch bevor sie ihn packte, wurde er gewahr, dass inmitten des schrillen Tones, der seine Ohren zu
zerfetzen drohte, alles still und leer schien, ohne Bewegung, wie ein windloser Sommertag, an dem der Augenblick in Reglosigkeit erstarrt, Gewässer zu
Spiegeln gerinnen und der Himmel zu blauem Glas. Einen Moment nur kostete Aron die Süße dieser Stille, dann fasste ihn die Macht des Sturmes, schmetterte
ihn zu Boden wie ein willenloses Ding, um sogleich wieder nachzulassen, sich zu fernem Flüstern abzuschwächen und im Nichts zu verschwinden.
Aron lag keuchend in tiefer Finsternis, glaubte zu verschmelzen mit dem Dunkel, glaubte sich aufzulösen, sich selbst zu verlieren, als rötliches Schimmern
eine Landschaft aus undurchdringlichem Schwarz schälte. Eine Schlucht sah Aron. Frei brauste der Sturm darüber hin. Von Horizont zu Horizont reichte der
Schlund dieses Risses, so breit, dass die andere Seite nicht zu erkennen war. Verloren in Dunkelheit war das Land dort drüben, nicht einmal zu erahnen von
Arons Blicken. Eine Brücke wölbte sich in anmutigem Bogen über den Abgrund, glitt hinüber in die Finsternis der anderen Seite, kaum breiter als ein Steg,
blitzend und schimmernd wie der Rücken eines gekrümmten Schwertes. Gestalten bewegten sich darauf, Silhouetten nur. Eine nach der anderen betrat den engen
Pfad über die Schlucht, wagte sich mit unsicher tastenden Schritten voran, ein Stück weit hinaus in den Sturm, zögernd, bis aus vorsichtigem Schreiten
Taumeln wurde, verzweifeltes Ringen um Halt und Gleichgewicht, Fallen, Stürzen in bodenloses Nichts. Mit pochendem Herzen näherte sich Aron der Brücke,
wusste auf einmal, dass es seine Bestimmung war, sich den Gestalten anzuschließen, den schmalen Steg zu beschreiten. Rasch geschah dies, bis nur mehr einer
vor Aron war, den gefahrvollen Weg zu wagen. Seine Augen hingen an dem Menschen, der schon weit draußen über der Schlucht mit der Gewalt des Windes rang,
sich drehte, die Arme ausbreitete, um schwankende Balance zu halten. Aron spürte die Angst dieses Menschen. Sie ergriff Besitz von seinem Herzen, als hätte
er sie selbst einst gefühlt, als sei es seine eigene Angst, aus tiefster Verborgenheit der Erinnerung hervorgeschleudert. Aron starrte gebannt auf die
schemenhafte Figur, die fast schon verschlungen war vom Dunkel, das wie schwarzer Nebel aus dem Abgrund quoll. Plötzlich wusste Aron, dass er selbst es
war, der dort draußen stand und um sein Leben kämpfte. Im gleichen Augenblick fiel die Gestalt, glitt aus, wurde fortgerissen vom Orkan, stürzte hinab in
den Rachen der Schlucht. Aron trat einige Schritte vor, um sie fallen zu sehen, trat vor bis an den Rand der Brücke, doch das Wesen, das dort draußen
gekämpft hatte, war längst aufgesogen von der Finsternis. Panische Angst ergriff Aron, als er spürte, dass es nun an ihm war, den Weg zu versuchen. Es
blieb keine Wahl, als voranzuschreiten, denn dicht hinter ihm wuchsen die Schlangenwände empor, malmende Gewalten, die ihn zu zerquetschen drohten. Zögernd
setzte er den Fuß auf den Steg. Aron spürte, dass die Brücke schmaler wurde, sich verengte zur Schneide einer Klinge. Noch stand ein Fuß auf sicherer Erde,
der andere aber war tastend vorgerückt über das endlose Schwarz. Wie hypnotisiert starrte Aron hinab in den Abgrund, erkannte, dass tief unten, kaum zu
erkennen für die Augen, der Widerschein eines gewaltigen Feuers leuchtete, eines Brandes, der die ganze Tiefe erfüllte. Als Aron das dunkle, kalte Glimmen
dieses Flammenmeeres erblickte, schrie er auf, denn die Angst in ihm zerbrach die letzten Barrieren und vereinte sich mit der Gewalt des Windes, der über
die Schlucht hintobte, schnürte ihm den Atem ab, drohte ihn zu ersticken.
Mit verzweifeltem Ringen nach Luft fuhr Aron aus dem Schlaf. Sein Herz raste. Er schleuderte die Bettdecke von sich, die durchnässt schien von Schweiß.
Sein heißer, fiebriger Körper bebte. Erst nach einigen Augenblicken wurde Aron bewusst, dass er in seinem Zimmer lag. Allmählich beruhigte sich sein Atem.
Mit weit offenen Augen sah er sich um. Im Raum lag das diffuse Dämmerlicht der nächtlichen Stadt, Lichtspuren, vom frisch gefallenen Schnee verdoppelt. Der
Schnee hatte die Geräusche der Stadt ausgelöscht. Aron lauschte weit
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