Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
nicht alles,“ schnitt Crapp Arons Gedanken ab, die sich auffächern und zerstreuen wollten. „Wie du weißt, gibt es für jeden
Prüfungsjahrgang eine genaue Abstufung. Bestanden allein ist zu ungenau. Die neuen Bewertungsinstrumente des Hauptquartiers lassen eine exakte Staffelung
zu. Jeder weiß dadurch genau, wo er steht. Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen: Du bist der Beste deines Trimesters in der deutschen
Akademie.“
Für einen Augenblick war Aron hellwach. Alle mürben Gedanken und Gefühle, die Zweifel, die Empörung, die Unruhe waren fortgewischt.
„Damit nicht genug, Aron. Wir haben in Europa drei Akademien. Du bist der beste Absolvent im Vergleich von allen drei. Im weltweiten Vergleich stehst du
unter den ersten drei, die als punktgleich gelten. Ich gratuliere dir herzlich. Das Liga-Zentrum und die Akademie sind stolz auf dich. Ich habe gestern vom
Akademiekoordinator die Bestätigung bekommen, dass du zum Hauptseminar in die Staaten eingeladen bist und eine persönliche Audienz beim Mahaguru erhalten
wirst. Du wirst das Hauptquartier besuchen und eine Führerschaftsschulung in Blackwater absolvieren. Außerdem wird man dich auf einer Reihe von Meetings
herumreichen, bei denen du eine Menge wichtiger Leute treffen wirst. Vor allem aber wird dir das Privileg gewährt, dem Mahaguru persönlich
gegenüberzustehen. Das wird dich entschädigen für die schwierige Zeit auf Bali, und es wird dich für deine kommenden Aufgaben motivieren.“
„Wir sind so stolz auf dich!“ Susan hielt Arons Arm. „Wir haben es immer gewusst. Wir haben immer große Stücke auf dich gehalten.“
Aron war zu verwirrt, um zu antworten. Unbändige Freude kämpfte in ihm mit der schreienden Selbstanklage, dass er dieser Ehre nicht würdig war, dass er
versagt, dass er die Liga belogen und hintergangen hatte. Er folgte den unsteten Augen Crapps, die nie stillzuhalten schienen, die einen Gesprächspartner
nie ruhig anblickten. Nur sein Lächeln stand starr wie eine Maske.
„Jetzt geh nach Hause und schlafe dich aus,“ sagte Crapp gütig. „Wir wollen es mit deinem Missionsbericht nicht so genau nehmen. Du kannst ihn irgendwann
in den nächsten Tagen abliefern. Aber denke immer daran, dass dein Erfolg nur eine Stufe auf deinem Weg darstellt, dass jedes Stillstehen Rückschritt
bedeutet. Das Erreichte ist nur eine Sprosse auf der unendlichen Leiter zur Erleuchtung des Hju.“
„Danke,“ antwortete Aron mechanisch. „Ich muss noch meine Abschlussarbeit fertigschreiben. Ich werde sie auf jeden Fall vor dem Hauptseminar abliefern.“
„Das ist schön.“
Als Aron den Raum verließ, spürte er Übelkeit in sich. Er schloss die Augen. Das Lächeln Crapps stand plastisch vor ihm. Lüge. Ben hatte recht. Dieser Mann
bestand nur aus Falschheit. Wie konnte es sein, dass er in der Liga eine solch hohe Position einnahm? Wie konnte er vor den Augen des Mahaguru bestehen?
Die Ethik-Hüterin fuhr Aron zum Wohnheim. Sie wirkte aufgeräumt, gratulierte ihm zu seinem Erfolg, plauderte über das bevorstehende Hauptseminar. Fast
hätte Aron sie gefragt, warum man ihn vom Flughafen abgeholt hatte, aber er ließ es lieber. Die Freundlichkeit der Ethik-Hüterin konnte eine Falle sein.
Wahrscheinlich würde die junge Frau auch den Inhalt dieser harmlosen Plauderei an ihren Vorgesetzten oder direkt an Crapp berichten. Aron war überzeugt,
dass Crapp hinter allem steckte, dass er diese sogenannte Routinemaßnahme angeordnet hatte. Zugleich wusste Aron, dass selbst sein Erfolg bei den
Akademieprüfungen ihn nicht zu schützen vermochte, sollten die EHs herausfinden, dass er Walt Mason begegnet war, dass er gelogen hatte. Immer wieder sagte
Aron sich vor, dass er nicht an den Grundfesten der Liga zweifelte, sondern nur an menschengemachten Geboten von EHs und Lireps. Diese Idee aber schien nur
ein Strohhalm, an den er sich im stürmischen Wellengang seiner Gedanken klammerte.
Glücklicherweise begegnete Aron keinem der anderen Studenten im Wohnheim. Er war zu müde, um Glückwünsche und Fragen über sich ergehen zu lassen. Er
schleppte den Koffer auf sein Zimmer und warf sich aufs Bett. Sein Körper schien sich zu drehen und unter ihm wegzusinken. Aron betrachtete den Koffer, der
in Augenhöhe neben dem Bett stand. Beide Security-Aufkleber, die man auf dem Flughafen in Bali über die Schlösser geklebt hatte, waren mit feinem Schnitt
durchtrennt. Die EHs hatten sein Gepäck durchsucht, während er
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