Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
Machtwort, um uns auf die Anwesenheit des Mahaguru einzustimmen,“ sagte er mit
Pathos und langen, wirkungsvollen Pausen. Er wartete ab, bis die Menschen sich auf ihren Sitzen zurechtgerückt hatten und stimmte den Hju-Gesang an, der
seit dem ersten Seminar unter Howard Jason jede Zusammenkunft von Atmas einleitete, das einzige gemeinsame Ritual, das in den Kreisen der Liga gepflegt
wurde und alle Zirkel der Einweihungen miteinander verflocht. Als Jason dieses Wort offenbarte, sagte er, dass in ihm die geheime Macht der Uralten
verborgen liege, deren eigentliche Bedeutung niemand außer dem Mahaguru zu ergründen vermöge. In den Schriften von Gordon Blake und Ken Andersen finden
sich Wunderdinge über das Hju. Atmas aus aller Welt schildern Visionen, Heilungen und phänomenale innere Erlebnisse, die ihnen durch das Singen des Hju
zuteilwurden. Vor allem über den Gesang des Hju in Gruppen oder auf Seminaren wird Fabelhaftes berichtet. Ich selbst hatte mich kaum je um dieses Mantra
gekümmert, hatte es bloß gewohnheitsmäßig mitgebrummt, wenn ein Treffen des inneren Kreises dies erforderlich machte. Jetzt aber, als Panetta mit
Zehntausenden Atmas das Hju sang, als sich die Halle mit vibrierendem Summen füllte, schien auch mich die Energie dieses Klanges zu packen. Ich spürte ein
Zittern, ein unbehagliches Aufbäumen, als wehre sich etwas in mir gegen eine Kraft, die mich ergreifen wollte. Ich schob es meiner Nervosität über den
bevorstehenden Auftritt Kens zu, zugleich aber schossen mir Fetzen meines Traumes durch den Kopf, leuchtende Bildsplitter, scheinbar wirklicher als die
Dinge vor meinen Augen – die Brücke über dem Abgrund voll Feuer, auf der Jason an den Fäden einer dunklen, unsichtbaren Kraft tanzte, umgeben vom Heulen
und Singen starken Windes. Ich schüttelte den Kopf, um diese Bilder loszuwerden, aber es wollte mir nicht gelingen. Der noch immer anschwellende Ton des
Hju draußen in der Halle war der Klang der Windes, den ich in meinem Traum gehört hatte, eben dieses durchdringende, alles erfüllende Vibrieren hatte die
Bilder meines Traumes erweckt. Der Ton, der im Saal erklang, trug die Schattenkraft, die hinter den Atmas stand und sie mit ihrem Willen erfüllte. Sie war
manifest in diesem Mantra, das die Menschen in Bann schlug, sie „anhob“, wie sie sagten, ihnen Erfahrungen schenkte und Einsicht in die Mysterien der
uralten Adepten. Dieses magische Wort band die Menschen an die Liga, verkettete sie mit den Mahagurus. Plötzlich begriff ich den Sinn des Hju-Gesanges – er
öffnete die Menschen, machte sie zu willigen, unbewussten Werkzeugen, fesselte sie an die Macht der Finsternis, raubte ihnen die Kraft der Unterscheidung,
des selbstständigen Denkens.
In einem Augenblick nur schoss mir diese Erkenntnis durch den Kopf. Sie war nicht in die Worte gefasst, die ich jetzt gebrauche, sondern brachte
unmittelbare Einsicht in diese Zusammenhänge, ein plötzliches Erfassen des Ganzen, das nur Bruchteile von Sekunden währte. Mein Herz schlug bis zum Hals.
Ich brach in Schweiß aus. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass es ein sinnloses Unterfangen war, den Weg der Liga in die vorbestimmte Richtung
aufhalten zu wollen. Selbst der Mahaguru vermochte es nicht mehr. Die Energie der Schattenmacht füllte die Halle, schwoll mit jedem Augenblick des
Hju-Gesanges weiter an, dehnte sich aus wie ein Ballon, in den Luft gepumpt wird. Es schien wie eine Fortsetzung meines Traumes, eine Fortsetzung des
Traumes von Ted, nur war er jetzt in die wirkliche Welt versetzt. Niemand vermochte mehr gegen diese Kraft aufzubegehren, sich ihrem Willen zu verweigern.
Wie lächerlich war das eifersüchtige Gerangel um Einfluss und Posten innerhalb der Liga-Hierarchie, wie kläglich die Position des Mahaguru, wie kümmerlich
die scheinbare Macht von Ted und mir, die wir als graue Eminenzen die Fäden zogen, vermeintlich allen überlegen in unserem Zynismus. All das war
unbedeutend wie das Gewimmel von Ameisen, verglichen mit der Macht, die uns zu ihren verborgenen Zwecken lenkte und benutzte. Wir waren Schachfiguren, die
eine unsichtbare Hand auf dem Brett bewegte, mit eisigem Kalkül. Es bedeutete nichts in ihrem Spiel, wie erhaben wir uns fühlten, wie mächtig, wie
einflussreich. Die äußere Form der Liga war unwichtig. Wem das Hju eingepflanzt war, wer ihm vertraute, wer seine Verehrung auf den Mahaguru oder die
uralten Adepten richtete, war verloren in diesem Sog der Finsternis.
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