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Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Der Name der Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Binder
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die Augen.
    „Er ist nicht verletzt. Er hat nur einen Schock,“ sagte eine gleichgültige Stimme. Ich wusste, dass ich gemeint war.
    Die Dinge verschwammen um mich. Ich sah nichts als die Augen, mit denen mich Ken angestarrt hatte, ein neuer Ken mit neuen Augen, mit den Augen eines
    Geschöpfs, das nicht von dieser Welt schien und das mir doch, in den Tiefen meines Wesens innig vertraut war. Der Gesang des Hju, das Traumbild von der
    Brücke des Windes, die Figur Jasons an den Fäden der unsichtbaren Macht, die Augen Kens, alles überschnitt sich in meinem Geist, fügte sich zu einem
    Ganzen, das jetzt zum ersten Mal ein komplettes Bild ergab, ein Puzzle, dem gerade das letzte Teilstück eingefügt worden war, ohne dass ich die Ganzheit
    verstand.
    Es ist seltsam, dass ich die Ereignisse nach dem Attentat, diese hektische Aufeinanderfolge von Begebenheiten, auf die ich keinen Einfluss hatte, die ich
    nur passiv erlebte, auf deren Zeitstrom ich hilflos mittrieb, in meiner Erinnerung nur lückenhaft zu rekonstruieren vermag, obwohl der intensive Zustand
    angespannter innerer Wachsamkeit nicht nachließ. Es schien, als kostete ich mit meiner neu gewonnenen Fähigkeit der Wahrnehmung jeden Augenblick bis zur
    Neige aus. Ich sah, hörte und fühlte unendlich viele Dinge gleichzeitig und vermochte sie im Augenblick des Erlebens auch zu verarbeiten und zu einem
    Ganzen zu verknüpfen, doch sie ließen kaum eine Prägung im Wachs der Erinnerung, ähnlich wie Träume, die in der Zeit des Träumens wirklicher und
    körperhafter scheinen als die Realität des Tages, die mit umfassenderen Sinnen aufgenommen werden, doch von denen am Morgen nur blasse, verwischte Spuren
    bleiben.
    Man brachte mich zusammen mit John in eine Klinik. Der Arzt, der mich untersuchte, empfahl mir, ein paar Tage zu bleiben, bis ich mich erholt hätte, sprach
    sein Beileid für Teds Tod aus. Er informierte mich, dass Ken Andersen die Schüsse wie durch ein Wunder schwer verletzt überlebt und John nur einen
    harmlosen Streifschuss am Arm davongetragen hatte. Ein rücksichtsvoller Polizeibeamter stellte Routinefragen. Der Attentäter war gefasst, der Fall
    eindeutig, ich konnte nichts beitragen, was nicht ohnehin schon bekannt war. Die Videokameras, die den Vortrag des Mahaguru aufzeichneten, hatten alles
    erfasst. Ein Fall für die Anwälte, die um Schuldzuweisungen kämpfen, Gründe suchen würden in Mängeln der Sicherheitsorganisation, um
    Schadenersatzforderungen zu rechtfertigen. Ich war erleichtert, als der Arzt mir sagte, es sei nicht möglich, Ken Andersen zu besuchen, er befinde sich auf
    der Intensivstation, jede Störung sei strengstens untersagt. Kens Augen standen vor mir, wenn ich die Lider schloss, kalt und brennend. Ich fürchtete mich
    vor ihnen, hätte nicht ertragen, noch einmal in sie blicken zu müssen. Etwas in mir drängte zur Flucht. Fort aus diesem Krankenhaus, fort aus dieser Stadt,
    fort aus diesem Land. Kribbelnde Unruhe packte mich. Ich fühlte mich bedroht. Ich wollte John sehen, wollte ihn um Rat fragen, mich aussprechen. Man
    erlaubte es mir nach einigem Zögern.
    „Wollen Sie sich nicht lieber ausruhen? Sie brauchen Schlaf. Ich gebe Ihnen ein Mittel, das Sie ruhig und tief schlafen lässt. Ruhe ist das einzige, das in
    dieser Situation gut für Sie ist.“
    Ich wehrte vehement ab. Der Gedanke, jetzt zu schlafen, das Bewusstsein zu verlieren, das nie zuvor im Leben wacher und klarer gewesen war, erschreckte
    mich. Ich spürte Wellen der Angst in mir, glaubte, man werde auch mich erschießen, werde mich im Schlaf ermorden. Ich wollte nicht schlafen. Ich wollte
    nicht ohnmächtig den furchtbaren Augen des Mahaguru ausgeliefert sein. Ich spürte die dunkle Energie, die aus dem Hju geflossen war, wie eine tödliche
    Bedrohung um mich.
    Schließlich ließ man mich zu John. Wir sprachen nur kurz, bevor die Schwester kam und um Ruhe bat, aber was John mir in diesen Minuten sagte und was ich
    auf seinen Wunsch auf das Band seines Diktiergerätes aufzeichnete, veränderte mein Leben. Wie oft habe ich seither dieses Band gehört, mir wieder und
    wieder diese schrecklichen Augenblicke des Attentats in Erinnerung gerufen. John gab mir einen antiken Stein, den er vor vielen Jahren Jason geschenkt
    hatte. Ich steckte ihn ein, ohne ihn in meiner Erschütterung weiter zu beachten. Erst als ich ihn später betrachtete, erinnerte ich mich, dass es der Stein
    mit dem Liga-Symbol war, den Jason diesem Timur Aslan gezeigt hatte. Jane hatte

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