Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)
der Liga wirken. Du bist ein Sucher, ebenso wie Ben einer war und viele der Atmas, die in ihrer naiven
Gutgläubigkeit der Liga in die Falle gehen. Ich habe nie wirklich nach geistigen Dingen gesucht und doch bin ich jetzt Buddhist geworden, habe meine
Zuflucht genommen zu den drei Juwelen, habe begonnen, zu meditieren und die Praxis dieses uralten Weges aufzunehmen. Weißt du, was mich auf den Weg
gebracht hat?“
Aron schüttelte den Kopf, versuchte krampfhaft, freundliche Aufmerksamkeit vorzutäuschen. Er schielte immer wieder nach dem Umschlag mit dem Gelben Buch,
der in Reichweite seiner Hand neben dem Teetisch lag.
„Der Tod. Die Erfahrung des Todes hat dich und mich verändert. Wie mir scheint, warst du einer dieser brav glaubenden Atmas, bis dich Bens Tod aus deiner
Lethargie aufgerüttelt hat. Manchmal bedarf es eines Schocks, um aufzuwachen, eines furchtbaren Schocks. Aber es ist gut, aus dem Dunkel zu erwachen, auch
wenn das Licht anfangs schmerzt. In meinem alten Leben habe ich nie einen Gedanken an den Tod verschwendet. Ich lebte, als sei ich unsterblich. Plötzlich
aber war ich umringt vom Tod – Ted, John und zuletzt Ben. Ich musste dreifach geschlagen werden, um den Tod anzunehmen, die Vergänglichkeit. Ich weiß
jetzt, dass die Bewusstheit über die Allgegenwart des Todes die Keimzelle wirklicher spiritueller Entfaltung ist. Der Tod wohnt in jeder verstreichenden
Sekunde. Der Buddha hat das in seiner ersten edlen Wahrheit auf den Punkt gebracht: Alles Leben ist Leiden, ist Vergänglichkeit, ist Tod. Erst wenn man das
begriffen hat, ich meine, durch tiefe, schmerzliche Erfahrung wirklich begriffen, vermag man tatsächlich einen spirituellen Weg zu gehen. Natürlich wurde
auch in der Liga über den Tod gesprochen, als irgendetwas kitschig Verklärtes, einen Theatereffekt, der nicht weiter störte bei all den Dingen, die vor
allem anderen wichtig waren – Erfolg, Geld, Intrigen, Macht, Scheinbarkeiten. Welch bequeme Illusion, welche Lebenslüge! Ich erkenne mit jedem Tag mehr, in
welche Sackgasse die Liga die Menschen führt, die ihr vertrauensselig anhängen. Früher sah ich nur die äußerlichen Aspekte. Ich dachte mir, es ist besser,
die Leute lassen ihr Geld bei uns als bei irgendeiner anderen Sekte oder Religion, wenn sie es schon loswerden wollen für ein bisschen metaphysischen
Lebenstrost und ein wenig eingebildetes Elitebewusstsein, das sie aus ihrem öden Alltag heraushebt. Die spirituelle Dimension war mir verschlossen. Erst
seit ich selbst einem Weg folge, seit sich mein Blickpunkt verändert hat, weiß ich, wie sehr ich mich mitschuldig gemacht habe an der Verblendung von so
vielen Menschen. Dr. Aslan hat mir nicht zu einem bestimmten Weg geraten, aber er hat mir Möglichkeiten gezeigt, hat mir Bücher verschiedener Richtungen
und Religionen empfohlen. Ich habe einen spirituellen Lehrer kennengelernt, der diesen Namen wirklich verdient, einen tibetischen Lama, einen bescheidenen
Menschen, der jeglichem lächerlichen Mahaguru-Kult nur sein frohes, unbeschwertes Lachen entgegenhalten würde. Es gibt keinen absoluten oder höchsten
Meister, von dem man lebenslang abhängig bleibt, wie das in der Liga üblich ist, um die Atmas an die Organisation zu fesseln. Es gibt viele Lehrer, die dir
helfen können, den Kontakt mit deiner dir innewohnenden Weisheitskraft herzustellen, dem eigentlichen, inneren Lehrer, der wahren Natur des Geistes. Du
musst den finden, der für dich am besten passt, der dein Bewusstsein zu öffnen vermag. Ich werde auf keinen Fall versuchen, dich von meinem zu überzeugen,
obwohl ich jetzt vielleicht ein wenig euphorisch klinge. Du musst deinen ganz individuellen Weg finden. Glaube mir, die Begegnung mit Dr. Aslan wird für
dich von weit größerem Nutzen sein als die Lektüre des Gelben Buches. Übrigens findest du in dem Umschlag auch die vier Briefe, die Timur mir vor unserem
Wiedersehen geschrieben hat. Lies diese Briefe. Sie sind viel bedeutender als der Inhalt des Gelben Buches, denn sie betreffen die wesentlichen Dinge.
Vergiss die Liga, Aron, kämpfe nicht mehr gegen sie, lasse sie hinter dir und beginne einen neuen Weg.“
Aron nickte abwesend, hörte kaum, was Walt zu ihm sagte, nahm den Umschlag mit dem Gelben Buch vom Boden, hielt ihn mit beiden Händen umklammert und
drängte zum Aufbruch.
Atemlos trat Aron in sein Hotelzimmer. Er schloss die Türe, verriegelte sie, drehte den Schlüssel zweimal um, zog die Vorhänge vor die
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