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Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Der Name der Finsternis: Roman (German Edition)

Titel: Der Name der Finsternis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Binder
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Fenster. Er hatte
    das Gelbe Buch im Taxi krampfhaft festgehalten, wie einen Schatz, den es vor Räubern zu retten gilt. Seine Einbildungskraft spielte verrückt – was
    geschähe, wenn das Taxi verunglückte, wenn ihn jemand vor dem Hotel überfiele, wenn Nachts Feuer ausbräche. Aron nahm sich vor, das Buch ständig bei sich
    zu tragen. Es war zu unsicher, es im Zimmer zu lassen, im Koffer. Selbst dem Hotelsafe wollte er es nicht anvertrauen. Aron betrachtete das in gelbe Seide
    gebundene Buch. Der Einband war abgegriffen, fleckig. Das Kuvert mit den Briefen dieses Timur Aslan steckte wie ein Lesezeichen zwischen den Seiten. Aron
    wagte nicht, das Buch zu öffnen, wickelte es in eine Plastiktüte, verstaute es in seinem Tagesrucksack, den er als Handgepäck mit ins Flugzeug nehmen
    würde. Er blickte auf die Uhr und ging ans Telefon. Er hatte die Nummer, die Patrick Panetta ihm gegeben hatte, auswendig gelernt. Mit zitterndem Finger
    wählte er sie, hörte fernes Rauschen in der Leitung, das Freizeichen, wie durch einen Nebel. Im nächsten Augenblick sprach Panettas Stimme zu ihm, so klar,
    als telefoniere er aus dem Nebenraum.
    Patrick Panetta meldete sich nicht mit Namen, doch Aron erkannte sofort die Stimme, die sagte, ohne dass er zu Wort gekommen war: „Warst du erfolgreich,
    Aron?“
    Aron erschrak, stockte, spürte das fordernde, ungeduldige Warten auf eine Antwort.
    „Ja,“ sagte er schließlich, „ich habe das Gelbe Buch.“
    „Wo ist es?“
    „Ich habe es in meinem Handgepäck verstaut.“
    „Lass es nicht aus den Augen, doch berühre es nicht. Vergifte nicht dein Bewusstsein damit. Hast du mich verstanden?“
    „Ja,“ antwortete Aron. Er war gelähmt von der Macht, die aus Panettas Stimme floss.
    „Hat Mason es dir freiwillig gegeben oder musstest du Gewalt gebrauchen?“
    „Gewalt?“
    „Musstest du zu… besonderen Mitteln greifen?“
    „Nein. Er hat es mir geliehen. Ich musste ihm versprechen, es zurückzubringen…“
    „Vertröste ihn. Es ist kein Vergehen, einen Lügner zu belügen, wenn es der Sache des Hju nutzt. Wann fliegst du zurück?“
    „Übermorgen.“
    „Gut. Aber sieh dich vor. Hüte das Gelbe Buch. Begib dich nicht in Gefahr. Weißt du, ob Mason Abschriften des Buches angefertigt hat oder Kopien?“
    „Nein, er sagte mir, dieses Exemplar, das er mir anvertraute, sei das einzige.“
    „Du hast deine Mission zur vollen Zufriedenheit des Mahaguru und der Nokam erfüllt, Aron. Zwei meiner engsten Mitarbeiter werden dich am Flughafen abholen
    und nach Blackwater bringen.“
    Aron wollte erwidern, aber Panetta hatte bereits aufgelegt.
    Es fröstelte ihn. Er holte die Tüte mit dem Buch wieder aus dem Gepäck, drehte und wendete das kleine Paket. Etwas drängte ihn, den Umschlag zu öffnen und
    in dem Buch zu blättern, das Ben und Judith gelesen hatten, doch mit eiserner Disziplin rang er diesen verbotenen Wunsch nieder, sang das Hju, bis sein
    Kopf leer wurde und hohle, bleierne Müdigkeit ihn überwältigte.
Kapitel 23
Vier Briefe
Der erste Brief
    Lieber Walt Mason, Ihr Brief hat mich sehr bewegt. Natürlich erinnere ich mich an unsere Begegnung vor so vielen Jahren. Sie war mein erster und einziger
    direkter Kontakt mit der Liga, die damals am Anfang ihres Aufstiegs stand. Niemand konnte ahnen, dass sie sich zu einer weltumspannenden Kraft entwickeln
    würde, obwohl der Grundstein dazu bereits gelegt war – die öffentliche Benutzung des Mantra Hju. Ich verließ Sie an diesem Abend mit Besorgnis, denn die
    meisten Mitglieder der Liga, denen ich bei diesem Seminar begegnete, waren angefüllt von der kompromisslosen Selbstherrlichkeit des Fanatismus, die zu
    allen Zeiten Ursache war von Leid und geistigem Rückschritt. Daher freute es mich besonders, in Ihnen, einem Mitglied der Führungselite, deutliche Zeichen
    von Zweifel und Unsicherheit zu erkennen, wie Lichter der Hoffnung in einem aufziehenden Unwetter. Ich habe seither die Entwicklung der Liga aus der Ferne
    verfolgt, ohne mich um Einzelheiten zu kümmern und ohne noch einmal in Kontakt mit der Liga und ihren Meistern zu treten.
    Doch ich spreche zu sehr von meinen eigenen Belangen. Ihr Brief hat mich nicht überrascht. Werfen Sie sich nicht vor, den wahren Charakter dieser
    Organisation nicht bereits früher durchschaut zu haben. Mitunter ist es vonnöten, einen Kreislauf der Erfahrung ganz zu durchwandern. Aus Ihren Zeilen
    entnehme ich, dass Sie eben durch diese Erfahrung Einsicht in Zusammenhänge erlangt

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