Der Name der Rose
nicht zum erstenmal – einem lüsternen Mönch aus Not hingeben wollte, um dafür etwas zu ergattern, womit es sich und seiner Familie die hungrigen Mäuler stopfen kann.«
»Eine Hure?!« rief ich entsetzt.
»Ein armes Bauernmädchen, lieber Adson. Vielleicht hat sie zu Hause eine Schar kleiner Brüder, die sie ernähren muß. Und wenn sie könnte, würde sie sich aus Liebe hingeben und nicht für Lohn. Wie sie es zum Beispiel vorhin getan hat. Du hast mir erzählt, daß sie dich jung und schön fand, und sie gab dir gratis und für deine Liebe, was sie einem anderen für ein Rinderherz und ein paar Lungenfetzen geben wollte. Und nach dieser freiwilligen Hingabe ihrer selbst fühlte sie sich so erhoben und tugendhaft, daß sie floh, ohne das Bündel oder sonst etwas mitzunehmen. Begreifst du nun, warum ich meine, daß der andere, mit dem sie dich verglichen hat, weder jung noch schön sein kann?«
Ich gestehe, daß mich diese Erklärung, wiewohl meine Reue immer noch heftig war, erneut mit zärtlichem Stolz erfüllte. Doch ich schwieg und ließ meinen Meister fortfahren.
»Ferner muß es diesem häßlichen Alten möglich gewesen sein, ins Dorf hinunterzugehen und mit den Bauern Kontakte zu unterhalten aus Gründen, die mit seinem Amt zu tun haben. Und er mußte wissen, wie man Fremde heimlich in die Abtei herein- und wieder hinausschleusen kann. Und er muß auch gewußt haben, daß es gerade heute Schlachtabfälle in der Küche gab (vielleicht wollte er morgen sagen, die Tür sei versehentlich offengeblieben und ein Hund habe sie gestohlen). Und schließlich muß er einen gewissen Sinn für sparsames Wirtschaften haben, ein Interesse daran, daß der Küche nicht allzu kostbare Lebensmittel entzogen werden, andernfalls hätte er wohl ein gutes Lendenstück oder dergleichen herausgerückt. Du siehst, lieber Adson, die Figur unseres Unbekannten gewinnt allmählich recht klare Konturen, denn all diese Eigenschaften und Attribute passen hervorragend auf ein Wesen, in dem ich nicht zögern würde, unseren wackeren Cellerar zu erkennen, Bruder Remigius von Varagine. Oder aber, falls ich mich täuschen sollte, unseren undurchsichtigen Freund Salvatore. Der übrigens, da er aus dieser Gegend stammt, vermutlich sehr gut mit den Bauern reden kann und sicher weiß, wie man ein Mädchen dazu bringt zu tun, was sie tun wollte, wenn du nicht dazwischengekommen wärst.«
»Ja, Ihr habt gewiß recht, so wird es gewesen sein«, sagte ich überzeugt. »Aber was können wir nun mit unserem Wissen anfangen?«
»Nichts. Oder sehr viel. Die Geschichte kann mit den Verbrechen, die wir untersuchen, viel oder auch nichts zu tun haben. Andererseits, wenn der Cellerar bei den Dolcinianern gewesen ist, erklärt das sehr gut sein Verhalten, und umgekehrt. Doch in jedem Falle wissen wir jetzt, daß diese Abtei bei Nacht ein Ort ist, an welchem so mancherlei seltsame Dinge geschehen – und wer weiß, ob nicht unser Cellerar und sein Gehilfe, die sich hier so ungeniert im Dunkeln herumtreiben, auch sonst noch so manches wissen, was sie nicht sagen.«
»Aber werden sie es uns sagen?«
»Nicht wenn wir Nachsicht üben und ihre Sünden ignorieren. Aber wenn wir wirklich etwas von ihnen erfahren wollten, hätten wir jetzt ein Mittel in der Hand, das sie zum Sprechen bringen könnte. Mit anderen Worten, wir werden uns, sobald es nötig wird, den Cellerar und Salvatore gefügig machen, und Gott wird uns diese kleine Pflichtverletzung vergeben, wo er doch schon soviel anderes vergibt . . .«, schloß William mit einem anzüglichen Blick, der mich nicht gerade ermunterte, Bemerkungen über die Erlaubtheit seines Vorhabens zu machen.
157
Der Name der Rose – Dritter Tag
»Und jetzt sollten wir eigentlich rasch zu Bett gehen, denn in einer Stunde ist bereits Mette. Aber wie ich sehe, bist du immer noch sehr erregt, mein armer Adson. Plagt dich deine Sünde noch immer? Wohlan, nichts ist beruhigender als ein stilles Gebet in der Kirche. Ich habe dir Absolution erteilt, aber man weiß ja nie. Also geh und bitte den Herrn um eine Bestätigung«, sagte William und gab mir einen kräftigen Klaps auf den Nacken, vielleicht als sanfte Buße, vielleicht aus väterlichfreundschaftlicher Zuneigung, vielleicht aber auch (wie ich in diesem Augenblick ungehörigerweise dachte) aus einem gewissen gutmütigen Neid, kannte ich ihn doch als einen Mann, der stets begierig war auf neue und lebensvolle Erfahrungen.
Wir begaben uns in die Kirche durch unseren
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