Der Name der Rose
sagt ein Mensch nicht nur, was er getan hat, sondern auch, was er tun wollte oder gern getan hätte, selbst wenn er sich dessen gar nicht bewußt war. Remigius will jetzt mit ganzer Seele nur noch den Tod.«
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Der Name der Rose – Fünfter Tag
Die Bogenschützen führten den immer noch heftig Zuckenden ab. Bernard ordnete schweigend seine Blätter. Dann blickte er auf und fixierte die Anwesenden, die wie versteinert vor Schrecken auf ihren Plätzen saßen.
»Das Verhör ist beendet. Der Angeklagte wird als geständiger Delinquent nach Avignon überstellt, wo ihm der endgültige Prozeß gemacht werden wird unter strengster Beachtung aller Regeln der Wahrheitsfindung und des Rechts. Erst nach diesem regulären Prozeß wird er dann verbrannt. Er gehört nicht mehr Euch, Abt Abbo, er gehört jetzt auch mir nicht länger, ich war nur das bescheidene Werkzeug der Wahrheitsfindung. Das Werkzeug des Rechts und seiner Vollstreckung findet sich andernorts. Die Hirten haben ihr Werk getan, es obliegt jetzt den Hunden, das schwarze Schaf von der Herde zu trennen und es mit Feuer zu reinigen. Die schmerzliche Episode, in der dieser Mann sich uns als der Schuldige zahlreicher Greueltaten entlarvt hat, ist vorüber. Die Abtei kann wieder in Frieden leben. Die Welt aber . . .«, Bernard hob die Stimme und sah die Legaten an, »die Welt hat noch keinen Frieden gefunden, die Welt wird zerrissen von Häresien, deren Urheber Zuflucht finden selbst noch in den Sälen der Kaiserpaläste! Meine Brüder mögen bedenken: Ein cingulum diaboli verbindet die perversen Sektierer Dolcinos mit den geehrten und hochangesehenen Meistern des Kapitels zu Perugia! Vergessen wir nie, in den Augen Gottes unterscheidet sich das Gefasel jenes Elenden, den wir soeben der Justiz überantwortet haben, nicht wesentlich von dem jener Theologen, die am Tische des exkommunizierten Bayern tafeln. Die Quelle der häretischen Ruchlosigkeiten sprudelt aus mancherlei Predigten, auch aus hochangesehenen, noch ungestraften. Leidvoll und schwer ist das Amt und die Aufgabe dessen, der, wie meine sündige Wenigkeit, von Gott berufen ist, die Schlange der Ketzerei zu entdecken, wo immer sie sich einnistet. Doch wenn man dieses heilige Werk verrichtet, lernt man, daß Ketzer nicht nur jene sind, die ihre Ketzerei offen praktizieren.
Die Helfershelfer der Ketzerei erkennt man an fünf beweiskräftigen Indizien. Erstens, wer die gefangenen Ketzer heimlich im Gefängnis besucht; zweitens, wer ihre Gefangennahme beklagt und ihnen im Leben freundschaftlich verbunden war (denn schwerlich entgehen einem die ruchlosen Machenschaften der Ketzer, wenn man häufig mit ihnen Umgang hat); drittens, wer die Meinung vertritt, die Ketzer seien zu Unrecht verurteilt worden, mag ihre Schuld auch erwiesen sein; viertens, wer Kritik übt an den Verfolgern der Ketzer und an denen, die erfolgreich gegen das Ketzertum predigen (und er braucht die Kritik gar nicht laut zu üben, man kann sie ihm schon an den Augen, an der Nasenspitze ansehen, am Gesichtsausdruck, wenn er unwillkürlich seinen Haß auf diejenigen bekundet, die er verabscheut, und seine Liebe zu denen, deren Mißgeschick er beklagt); fünftes Kennzeichen ist schließlich, wenn jemand die Knochen verbrannter Ketzer sammelt und zum Gegenstand seiner Verehrung macht . . . Aber ich messe auch einem sechsten Kennzeichen größten Wert bei: Offenkundige Helfershelfer der Ketzer sind in meinen Augen auch jene, deren Schriften (auch wenn sie nicht unverhüllt den rechten Glauben bekämpfen) den Ketzern die Prämissen geliefert haben, aus denen sie ihre perversen Schlußfolgerungen zogen.«
Sprach's und fixierte Ubertin. Alle anwesenden Franziskaner begriffen sofort, worauf er anspielte. Das Treffen war definitiv gescheitert, niemand hätte es jetzt noch gewagt, die Debatte vom Vormittag wiederaufzunehmen, jedes weitere Wort wäre zwangsläufig an den schlimmen Ereignissen der vergangenen Stunde gemessen worden. Wenn Bernard Gui vom Papst geschickt worden war, um eine Verständigung der beiden Legationen zu vereiteln, so hatte er seinen Auftrag glänzend erfüllt.
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Der Name der Rose – Fünfter Tag
FÜNFTER TAG
VESPER
Worin Ubertin die Flucht ergreift, Benno sich an die Gesetze zu halten beginnt und William einige Betrachtungen anstellt über die verschiedenen Arten von Wollust, die an jenem Tage zum Vorschein gekommen sind.
Während der Saal sich langsam leerte, kam Michael von Cesena zu meinem Meister, und gleich darauf
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