Der Name der Rose
Rom. Efeu überrankte die Mauerstümpfe, die Säulen, die wenigen noch vorhandenen Architrave. Hohes Unkraut wucherte allenthalben, so daß man nicht einmal mehr sehen konnte, wo vordem die Gärten gelegen hatten. Nur die Lage des Friedhofs war noch erkennbar an einigen Grabsteinen, die halb aus dem Erdboden ragten. Das einzige Zeichen von Leben waren hochfliegende Raubvögel auf der Jagd nach Schlangen und Eidechsen, die gleich Basilisken zwischen den Steinen züngelten oder um die verfallenen Gemäuer huschten. Vom Kirchenportal standen nur noch wenige schimmelzerfressene Reste, aber das Tympanon war zur Hälfte erhalten, und ich entdeckte sogar, weit aufgerissen von den Unbilden der Witterung und umflort von grauen Flechten, das linke Auge des Sitzenden auf dem Thron und ein Stück vom Antlitz des Löwen.
Das Aedificium schien großenteils, abgesehen von der eingestürzten Südmauer, noch zu stehen und dem Nagen der Zeit zu trotzen. Die beiden Türme über dem Steilhang sahen fast unversehrt aus, nur die Fenster waren überall leere Augenhöhlen mit Tränensäcken aus fauligen Schlinggewächsen. Innen jedoch verschmolz das zerstörte Menschenwerk mit dem der Natur, und aus der Küche sah das Auge durch eine weite Öffnung zum Blau des Himmels empor, denn die oberen Stockwerke und das Dach waren
niedergestürzt wie gefallene Engel. Und alles, was nicht grün war vom wuchernden Moos, war immer noch schwarz von dem Brand vor Jahrzehnten.
Beim Herumstöbern in den Trümmern fand ich hier und da ein paar Fetzen von Pergament, die aus Skriptorium und Bibliothek heruntergefallen waren und im Schutt überlebt hatten wie vergrabene Schätze.
Ich begann sie zu sammeln, als müßte ich die Seiten eines auseinandergefallenen Buches wieder zusammenlegen. Dann entdeckte ich, daß in einem der Türme eine brüchige, aber noch
zusammenhängende Wendeltreppe nach oben führte, und so gelangte ich, vorsichtig über Schutthaufen kletternd, ins Skriptorium und von dort sogar weiter hinauf bis zur Höhe der Bibliothek – doch diese war nur noch eine Art von schmaler, an den Außenmauern hängender Galerie rings um einen gähnenden Abgrund.
An einer Wand fand ich einen Schrank, der wunderbarerweise noch stand und das Feuer irgendwie überlebt hatte, faulig vom Regenwasser und zerfressen von Würmern. In seinem Innern lagen noch einige Blätter. Andere Pergamentreste fand ich beim Durchsuchen der Trümmer unten. Es war eine karge Ernte, die ich so zusammenbekam, doch ich verbrachte einen ganzen Tag damit, sie einzusammeln, als erhoffte ich mir von diesen disiecta membra der Bibliothek irgendeine Botschaft. Manche Fragmente waren gänzlich verblichen, andere ließen noch Umrisse einer Zeichnung erkennen, zuweilen die Ahnung eines oder gar mehrerer Worte. Hin und wieder fand ich auch Blätter, auf denen ganze Sätze zu lesen waren, ja sogar einige fast komplette Buchrücken, die den Brand überstanden hatten dank dessen, was einst ihre Metallbeschläge gewesen . . . Larven von Büchern, äußerlich scheinbar unversehrt, doch innen wüst und leer. Dennoch hatte sich hier und da ein Blatt gerettet, schien ein Incipit auf, eine Kapitelüberschrift . . .
Ich sammelte alle Reliquien ein, die ich finden konnte, und füllte damit zwei Reisetaschen. Ich ließ nützliche Dinge zurück, um meinen dürftigen Schatz mitnehmen zu können.
Auf der Rückreise und später in Melk verbrachte ich viele Stunden mit dem Versuch, jene spärlichen Überbleibsel zu entziffern. Nicht selten erkannte ich an einem verblichenen Wort oder Bild, um welches Werk es sich handelte. Und wenn ich dann später im Laufe der Jahre andere Kopien der so erschlossenen Werke fand, studierte ich sie mit besonderer Liebe, als hätte das Schicksal mir jene Erbschaft vermacht, als wäre die Tatsache, daß ich eine zerstörte Handschrift erkannt hatte, gleichsam ein klarer Fingerzeig vom Himmel, der zu mir sagte: Tolle et lege! Am Ende meiner geduldigen Rekonstruktionsbemühungen zeichnete sich vor meinen Augen so etwas wie eine kleine Bibliothek als Zeichen jener verschwundenen großen ab, eine Bibliothek aus Schnipseln, Fragmenten, Zitaten, unvollendeten Sätzen, Ruinen und Torsi von Büchern.
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Der Name der Rose – Epilog
Je öfter ich in meiner Sammlung lese, desto klarer wird mir, daß sie ein Produkt des Zufalls ist und keine Botschaft enthält. Gleichwohl haben mich diese unvollständigen Seiten mein ganzes ferneres Leben begleitet bis heute, und mich dünkt
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