Der Name der Rose
William gegen Ende des Inquisitio nsprozesses macht (Seite 241 dieser Ausgabe). »Was schreckt Euch am meisten an der Reinheit?«
fragt Adson, und William antwortet: »Die Eile.« Ich mochte diese zwei Zeilen sehr und mag sie noch heute.
Dann aber wies mich ein Leser daraufhin, daß auf der folgenden Seite Bernard Gui, während er dem Cellerar mit der Folter droht, sagt: »Die Gerechtigkeit hat keine Eile, wie die Pseudo-Apostel meinten, und Gottes Gerechtigkeit kann sich Jahrhunderte Zeit lassen.« Und der Leser stellte mir die berechtigte Frage, welche Beziehung ich zwischen der von William gefürchteten Eile und dem von Bernard gefeierten Mangel an Eile habe herstellen wollen. Da ging mir auf, daß hier etwas Beunruhigendes geschehen war. Der kurze Wortwechsel zwischen Adson und William hatte im Manuskript noch gar nicht gestanden, ich hatte ihn erst beim Korrigieren der Druckfahnen eingefügt: Aus Gründen der rhythmischen Harmonie (concinnitas) brauchte ich noch einen trennenden Takt, bevor ich dem Inquisitor von neuem das Wort erteilte. Und während ich William die Eile verabscheuen ließ (aus tiefer Überzeugung, weshalb mir seine Antwort so gut gefällt), war mir natürlich ganz entfallen, daß wenig später auch Bernard Gui von der Eile spricht. Für sich genommen ist Bernards Bemerkung nichts als eine Redensart, die man von einem Richter erwartet, eine Phrase wie »vor dem Gesetz sind alle gleich«. Konfrontiert mit der von William angesprochenen Eile bewirkt jedoch die von Bernard angesprochene Eile einen hintergründigen Sinn, und der Leser fragt sich mit Recht, ob die beiden Personen das gleiche sagen, oder ob der von William geäußerte Haß auf die Eile nicht doch etwas anderes ist als der von Bernard geäußerte Haß auf die Eile. Der Text ist da und produziert seine eigenen Sinnverbindungen. Ob ich es beim Schreiben gewollt hatte oder nicht, man steht jetzt vor einer Frage, einer mehrdeutigen Provokation, und ich selbst habe Schwierigkeiten, den Gegensatz zu interpretieren, obwohl ich begreife, daß er einen Sinn enthält (vielleicht viele).
Der Autor müßte das Zeitliche segnen, nachdem er geschrieben hat. Damit er die Eigenbewegung des Textes nicht stört.
Den Arbeitsprozeß erzählen
Der Autor darf nicht interpretieren. Aber er kann erzählen, wie und warum er geschrieben hat. Die sogenannten poetologischen Schriften oder Poetiken dienen nicht immer zum besseren Verständnis des Werkes, von dem sie angeregt worden sind, aber sie dienen zur Einsicht in die Verfahrensweise bei der Lösung des technischen Arbeitsproblems, das die Hervorbringung (Produktion) eines Werkes immer auch ist.
Edgar Allan Poe erzählt in seinem Essay Die Methode der Komposition , wie er sein Gedicht Der Rabe geschrieben hat. Er sagt uns nicht, wie wir es lesen sollen, sondern welche Probleme er sich gestellt hat, um eine »poetische Wirkung« zu erzielen. Und definieren würde ich die poetische Wirkung als die Fähigkeit eines Textes, immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen.
Wer schreibt (oder malt oder bildhauert oder komponiert), weiß stets, was er tut und was es ihn kostet.
Er weiß, daß er ein Problem lösen muß. Die Ausgangsdaten mögen obskur sein, triebhafte, obsessive Motive, kaum mehr als ein Gelüst oder eine Erinnerung. Dann aber muß er das Problem am Arbeitstisch lösen, in Auseinandersetzung mit dem Stoff, den er bearbeitet, das heißt mit einer Materie, die eigene Naturgesetze aufweist, aber zugleich die Last der bereits in sie eingegangenen Kultur (das Echo der Intertextualität) mitschleppt.
Wenn ein Autor behauptet, er habe im Rausch der Inspiration geschrieben, lügt er. Genie ist zehn Prozent Inspiration und neunzig Prozent Transpiration.
Lamartine schrieb einmal, ich weiß nicht mehr, über welches seiner Gedichte, es sei ihm spontan eingefallen, urplötzlich in einer stürmischen Nacht im Walde. Als er gestorben war, fand man seine Manuskripte mit zahlreichen Korrekturen und Varianten, und besagtes Gedicht erwies sich als das vielleicht am meisten »bearbeitete« der gesamten französischen Literatur.
Wenn ein Schriftsteller (oder Künstler im allgemeinen) sagt, er habe gearbeitet, ohne an die Verfahrensregeln zu denken, meint er damit nur, daß er gearbeitet hat, ohne zu wissen, daß er die Regeln kannte. Ein Kind weiß seine Muttersprache gut zu gebrauchen, aber es könnte nicht ihre Grammatik schreiben. Dennoch ist der Grammatiker nicht der
Weitere Kostenlose Bücher