Der Name der Rose
Romans ist ein kosmologischer Akt – wie der, von welchem die Genesis handelt (irgendein Vorbild muß man sich schließlich nehmen, sagte Woody Allen).
Der Roman als kosmologischer Akt
Wer erzählen will, muß sich zunächst eine Welt erschaffen, eine möglichst reich ausstaffierte bis hin zu den letzten Details. Angenommen, ich schaffe mir einen Fluß, zwei Ufer, auf deren linkes ich einen Angler setze, ausgestattet mit einem jähzornigen Charakter und einem nicht ganz sauberen Strafregister, so könnte ich schon zu schreiben beginnen, indem ich in Worte fasse, was unvermeidlich geschehen muß. Was tut ein Angler? Er angelt (schon habe ich eine Reihe von mehr oder minder unausweichlichen Begriffen, Gesten, Bewegungen). Und was geschieht dann? Entweder gibt es in meinem Fluß Fische, die anbeißen, oder es gibt keine. Gibt es welche, so wird sie der Angler angeln und zufrieden nach Hause gehen. Gibt es keine, so wird er, jähzornig wie er ist, vielleicht wütend werden und seine Angelrute zerbrechen. Nicht eben viel, aber 334
Nachschrift zum »Namen der Rose«
schon ein Ansatz. Nun gibt es jedoch ein indianisches Sprichwort, das heißt: »Setz dich ans Ufer des Flusses und warte, bald wird deines Feindes Leiche vorbeischwimmen.« Was, wenn nun eine Leiche den Fluß heruntergeschwommen käme (ist doch die Möglichkeit einer Wasserleiche dem intertextuellen Bezugsfeld des Flusses prinzipiell inhärent)? Vergessen wir nicht, daß mein Angler ein nicht ganz sauberes Strafregister hat. Wird er die Polizei holen und riskieren, daß er Ärger bekommt? Wird er davonlaufen? Wird er so tun, als ob er die Leiche nicht sieht? Wird er vor Angst vergehen, weil die Leiche am Ende tatsächlich die seines Feindes ist? Wird er vor lauter Wut platzen, weil er die langersehnte Rache nun nicht mehr vollziehen kann?
Wie man sieht, genügt es, die eigene Welt mit wenigem auszustaffieren, und schon hat man den Ansatz zu einer Geschichte. Auch schon den Ansatz zu einem Stil, denn ein Angler, der angelt, verlangt von meiner Erzählung einen ruhigen, fließenden Rhythmus, skandiert nach dem Muster seiner Erwartung, die geduldig sein muß, aber auch nach dem Muster seiner jähen Wutausbrüche. Das Problem ist, die Welt zu errichten, die Worte kommen dann fast wie von selbst. Rem tene, verba sequentur . Das Gegenteil dessen, was, glaube ich, in der Lyrik geschieht: Verba tene, res sequentur .9
Das erste Jahr der Arbeit an meinem Roman verging mit dem Aufbau der Welt. Lange Listen der Bücher, die in einer mittelalterlichen Bibliothek stehen konnten. Namen- und Datenregister für viele Personen, viele mehr, als am Ende in die Geschichte hineinkamen. Denn ich mußte ja schließlich auch wissen, wer die anderen Mönche waren, die nicht im Buch auftreten; es war nicht nötig, daß der Leser ihre Bekanntschaft machte, aber ich mußte sie kennen. Wer hat gesagt, die Epik müsse dem Einwohnermeldeamt Konkurrenz machen? Aber vielleicht muß sie auch dem Bauamt Konkurrenz machen. Also ausgedehnte architektonische Studien, anhand von Bildern, Fotos und Grundrissen in der Enzyklopädie der Architektur, um den Plan der Abtei festzulegen, die Entfernungen, ja selbst die Anzahl der Stufen einer Wendeltreppe. Marco Ferreri hat mir später gesagt, daß meine Dialoge filmgerecht seien, da sie die richtige Länge hätten. Kein Wunder: Wenn zwei meiner Personen miteinander redeten, während sie vom Refektorium zum Kapitelsaal gingen, schrieb ich mit dem Plan der Abtei vor Augen, und wenn sie angelangt waren, hörten sie auf zu reden.
Um frei erfinden zu können, muß man sich Beschränkungen auferlegen. In der Lyrik kann die Beschränkung durch das Versmaß gegeben sein, durch den Reim oder auch durch das, was Zeitgenossen den Atem nach dem Gehör genannt haben. In der Epik wird die Beschränkung durch die zugrundeliegende Welt gegeben. Das ist keine Frage des Realismus (obwohl es sogar den Realismus erklärt): Man kann sich auch eine ganz irreale Welt errichten, in der die Esel fliegen und die Prinzessinnen durch einen Kuß geweckt werden, aber auch diese rein phantastische und »bloß mögliche« Welt muß nach Regeln existieren, die vorher festgelegt worden sind (zum Beispiel muß man wissen, ob es eine Welt ist, in der Prinzessinnen nur durch den Kuß von Prinzen geweckt werden können oder auch durch den Kuß einer Hexe, und ob der Kuß einer Prinzessin nur Kröten in Prinzen zurückverwandelt oder auch, sagen wir, Gürteltiere).
Zu meiner Welt
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