Der Name der Rose
jedem Verdacht und jeder Unterstellung der Avignoneser
zuvorkommen.«
»Sollte ich nicht auch annehmen, daß Eure Erhabenheit mir zugleich eine Spur für meine
Nachforschungen gewiesen hat? Meint Ihr, daß den jüngsten Vorfällen hier eine dunkle Geschichte zugrunde liegen könnte, die möglicherweise mit der häretischen Vergangenheit eines Eurer Mönche zu tun hat?«
Der Abt sah William einen Moment lang schweigend an, ohne daß seine Züge verrieten, was er dachte.
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Der Name der Rose – Zweiter Tag
Dann sagte er: »Ihr seid der Inquisitor in dieser traurigen Angelegenheit. Euch kommt es zu, jemanden zu verdächtigen und eventuell sogar einen ungerechten Verdacht zu hegen. Ich bin hier nur der gemeinsame Vater. Und seid gewiß: Wenn ich wüßte, daß die Vergangenheit eines meiner Mönche Anlaß zu einem ernsthaften Verdacht gäbe, hätte ich selber bereits das Notwendige unternommen, um die üble Pflanze auszurotten. Was ich weiß, habe ich Euch gesagt. Was ich nicht weiß, möge allein dank Eurer Klugheit ans Licht kommen. Doch was immer Ihr findet, in jedem Falle bitte ich Euch: informiert mich unverzüglich und zuerst!«
Sprach's, grüßte und ging aus der Kirche.
»Die Geschichte wird immer komplizierter, mein lieber Adson«, sagte William mit verdunkelter Miene.
»Wir sind hinter einer geheimnisvollen Handschrift her, interessieren uns für das Treiben einiger allzu lustvoller Mönche, und da zeichnet sich plötzlich immer nachdrücklicher eine ganz andere Spur ab . . . Der Cellerar also . . . Und mit dem Cellerar kam damals jenes seltsame Wesen namens Salvatore . . . Doch laß uns jetzt ein paar Stunden schlafen, wir haben schließlich vor, die Nacht über wach zu bleiben.«
»Dann wollt Ihr also immer noch heute nacht in die Bibliothek? Gebt Ihr die erste Spur nicht auf?«
»Keineswegs. Und wer hat überhaupt gesagt, daß es sich um zwei verschiedene Spuren handelt?
Außerdem könnte die ganze Geschichte mit dem Cellerar auch nur ein falscher Verdacht des Abtes sein . . .«
Wir verließen die Kirche und gingen hinüber zum Pilgerhaus. Auf der Schwelle blieb William stehen und redete weiter, als hätte er gar nicht aufgehört.
»Im Grunde hatte der Abt mich gebeten, den Tod des Adelmus zu untersuchen, als er lediglich dachte, daß einige seiner jüngeren Mönche schamlose Dinge trieben. Nun aber hat der Tod des Venantius einen anderen Verdacht in ihm geweckt, vielleicht ahnt der Abt, daß der Schlüssel zum ganzen Geheimnis in der Bibliothek liegt, und will nicht, daß ich meine Nachforschungen auf sie ausdehne. Und deshalb setzt er mich jetzt auf die Spur des Cellerars, um meine Aufmerksamkeit vom Aedificium abzulenken . . .»
»Aber warum sollte er nicht wollen, daß . . .«
»Frag nicht soviel. Er hatte mir gleich zu Anfang gesagt, daß die Bibliothek tabu sei. Er könnte doch selber in eine Sache verwickelt sein, von der er zunächst annahm, daß sie in keiner Beziehung zu Adelmus' Tod stünde. Aber nun muß er feststellen, daß der Skandal um sich greift und auch ihn zu erfassen droht. Und darum will er nicht, daß die Wahrheit ans Licht kommt, jedenfalls nicht durch mich . . .«
»Aber dann ist dieser Ort ganz von Gott verlassen«, sagte ich verzagt.
»Hast du jemals einen Ort gefunden, in dem sich Gott rundum wohlfühlen könnte?« fragte William und sah mich ernst von der Höhe seiner Statur herab an.
Dann schickte er mich in meine Zelle. Und während ich mich unter meiner Decke verkroch, fand ich, daß mein Vater mich besser nicht hätte in die Welt hinausschicken sollen, die viel größer und komplizierter war, als ich je gedacht. Allzuviel Neues mußte ich lernen!
» Salva me ab ore leonis «, betete ich, schon halb im Schlaf.
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Der Name der Rose – Zweiter Tag
ZWEITER TAG
NACH VESPER
Worin, obwohl das Kapitel kurz ist, der Greis Alinardus recht interessante
Dinge über das Labyrinth andeutet und über die Art, wie man hineingelangt.
Ich wachte erst auf, als es zur Vesper läutete, und war ganz benommen, denn der Schlaf am Tage ist wie die Sünde des Fleisches: Je mehr man davon gekostet hat, desto mehr will man davon haben, und dennoch fühlt man sich immer unwohl, befriedigt und unbefriedigt zugleich. William war nicht in seiner Zelle, gewiß hatte er sich schon viel früher erhoben. Ich fand ihn nach kurzer Suche, wie er gerade aus dem Aedificium kam. Er sagte mir, er sei im Skriptorium gewesen, habe ein wenig im Katalog geblättert, die Mönche bei ihrer
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