Der Name der Rose
nur ein Mittel. An jedem neuen, das heißt noch niemals zuvor erreichten Kreuzungspunkt wird der Durchgang, durch den man gekommen ist, mit drei Zeichen markiert. Erkennt man an den bereits vorhandenen Zeichen auf einem der Durchgänge, daß man an der betreffenden Kreuzung schon einmal gewesen ist, bringt man an dem Durchgang, durch den man gekommen ist, nur ein Zeichen an. Sind alle Durchgänge schon mit Zeichen versehen, so muß man umkehren und zurückgehen. Sind aber einer oder zwei Durchgänge der Kreuzung noch nicht mit Zeichen versehen, so wählt man einen davon und bringt zwei Zeichen an. Durchschreitet man einen Durchgang, der nur ein Zeichen trägt, so markiert man ihn mit zwei weiteren, so daß er nun drei Zeichen trägt. Alle Teile des Labyrinthes müßten durchlaufen worden sein, wenn man, sobald man an eine Kreuzung gelangt, niemals den Durchgang mit drei Zeichen nimmt, sofern noch einer der anderen Durchgänge frei von Zeichen ist.«
»Woher wißt Ihr das? Seid Ihr Experte in Labyrinthen?«
»Nein, ich rezitiere nur einen alten Text, den ich einmal gelesen habe.«
»Und nach dieser Regel gelangt man hinaus?«
»Nicht daß ich wüßte. Aber versuchen wir es trotzdem. In den nächsten Tagen werde ich außerdem Linsen haben, kann also besser auf die Bücher achten. Es könnte sein, daß dort, wo die Abfolge der Inschriften uns verwirrt, die der Bücher uns weiterhilft.«
»Ihr werdet Eure Linsen wiederhaben? Wie wollt Ihr sie finden?«
»Ich sagte: ich werde Linsen haben. Ich werde mir welche machen lassen. Der Glasermeister wartet doch nur auf eine solche Gelegenheit, seine Kunst zu beweisen und etwas Neues zu lernen. Hoffentlich hat er das richtige Werkzeug, um Gläser zu schleifen. Glasscherben gibt es bei ihm genug.«
Während wir weiter durch die Räume irrten, war mir plötzlich mitten in einem Raum, als ob meine Stirn von einer unsichtbaren Hand berührt worden sei. Zugleich erklang ein Seufzen, das weder tierisch noch menschlich schien, bald aus der Nähe, bald aus der Ferne, als ginge ein Gespenst durch die verwinkelten Räume. Ich hätte wahrhaftig inzwischen auf Überraschungen gefaßt sein müssen, aber von neuem fuhr ich zusammen und machte einen Satz zurück. Auch William mußte etwas gespürt haben, denn er faßte sich überrascht an die Wange, hob die Lampe und schaute sich um.
Er hielt eine Hand vor das Licht und beobachtete die Flamme. Sie schien etwas lebhafter aufzuflackern. Dann befeuchtete er sich einen Finger und streckte ihn gerade empor.
»Klar«, sagte er und zeigte mir an zwei Wänden des Raumes in Augenhöhe zwei genau gegenüberliegende Stellen, an denen sich schmale Schlitze im Mauerwerk öffneten. Als ich die Hand davor hielt, spürte ich einen frischen Luftzug von draußen, und als ich das Ohr daran legte, hörte ich ein Rauschen, als ginge draußen der Wind.
»Schließlich mußte die Bibliothek ja irgendein Belüftungssystem haben«, erklärte William, »sonst wäre die Luft hier bald unerträglich, besonders im Sommer. Außerdem dringt durch diese Kanäle die richtige Dosis Feuchtigkeit ein, so daß die Pergamente nicht austrocknen. Aber die Findigkeit der Baumeister geht noch weiter: Indem sie die Schlitze in bestimmten Winkeln anordneten, sorgten sie dafür, daß die Luftzüge, die in windigen Nächten hier eindringen, sich mit anderen Luftzügen überschneiden und sich in den Räumen stauen, um jene Töne hervorzurufen, die wir soeben vernahmen. Und die dann zusammen mit den Spiegeln und Kräutern dem unerwünschten Eindringling Angst machen sollen. Selbst wir haben einen Moment lang geglaubt, daß Gespenster uns im Gesicht berührten. Daß wir erst jetzt darauf gestoßen sind, liegt einfach daran, daß draußen der Wind sich erst jetzt erhoben hat. Somit wäre auch dieses Geheimnis erklärt. Aber mit alledem wissen wir immer noch nicht, wie wir hier rauskommen!«
So redend irrten wir weiter herum, nun bereits ziemlich verloren. Wir hatten längst aufgehört, die Inschriften zu lesen, sie schienen uns alle gleich. Wir gerieten erneut in einen siebeneckigen Raum, durchquerten die Räume um ihn herum, fanden keinen Ausgang. Wir machten kehrt, eilten fast eine Stunde lang von Raum zu Raum und hatten jegliche Orientierung verloren. Schließlich gab sich William geschlagen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns irgendwo niederzulegen und zu hoffen, daß Malachias uns am nächsten Tag finden würde. Während wir ganz verzagt das erbärmliche Ende unserer
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