Der Name der Rose
Segarelli zog mit einer ›Apostolessa‹ herum, einer gewissen Tripia oder Ripia, die vorgab, sie besäße die Gabe der Prophetie. Eine Frau, verstehst du?«
»Aber ehrwürdiger Vater«, unterbrach ich von neuem, »Ihr selbst habt doch neulich von den frommen Visionen der Schwestern Clara von Montefalco und Angela von Foligno gesprochen …«
»Sie waren Heilige! Sie lebten in Demut und anerkannten die Macht der Kirche, und es lag ihnen gänzlich fern, sich die Gabe der Prophetie anzumaßen. Die Pseudo-Apostel dagegen behaupteten, ähnlich wie viele andere Ketzer, auch die Frauen könnten jederzeit predigen und als Predigerinnen durchs Land ziehen. Und dabei machten sie auch keinen Unterschied mehr zwischen Ledigen und Verheirateten, und kein Gelübde galt ihnen mehr als bindend … Kurzum (denn ich will dich nicht allzusehr mit dieser trüben Geschichte belasten, deren volle Bedeutung du noch nicht richtig erfassen kannst), es kam schließlich so weit, daß der Bischof Obizzo von Parma beschloß, Gherardo in Ketten legen zu lassen. Da aber geschah etwas Sonderbares, woran du sehen kannst, wie schwach die Natur des Menschen ist und wie tückisch das Giftkraut der Häresie. Denn es dauerte nicht lange, und der Bischof ließ Gherardo wieder frei, empfing ihn an seiner Tafel und lachte über seine groben Spaße und behielt ihn bei sich als seinen Hofnarren.«
»Und wie kam das?«
»Ich weiß es nicht … das heißt, ich fürchte, ich weiß es doch. Der Bischof war ein Mann des Adels, ihm mißfielen die Händler und Handwerker in der Stadt. Vielleicht war es ihm daher ganz recht, wenn Gherardo weiterhin mit seinen Armutspredigten gegen den Reichtum der Bürger wetterte und vom Betteln zum Raub überging … Erst als der Papst persönlich eingriff, besann sich der Bischof auf die gebotene Strenge, und Gherardo endete elendiglich als gottloser Ketzer auf dem Scheiterhaufen. Das war zu Anfang dieses Jahrhunderts.«
»Und was hat das alles mit Fra Dolcino zu tun?«
»Mancherlei, mein Sohn, und daran kannst du sehen, wie das Ketzertum selbst die Vernichtung der Ketzer zu überleben vermag. Dolcino war der Bastard eines Priesters in der Diözese Novara, wenige Tagereisen nördlich von hier. Manche behaupten auch, er stamme aus einer anderen Gegend, aus Romagnano oder aus dem Tal der Ossola, aber das kommt wohl aufs gleiche hinaus. Er war ein sehr aufgeweckter Junge und wurde in den Litterae unterwiesen, doch eines Tages bestahl er den Priester, der sich um ihn kümmerte, und floh nach Trient im Etschtal. Dort nahm er Gherardos Predigt auf und setzte sie noch häretischer fort, als sie ohnehin war. Er scheute sich nicht zu behaupten, er sei der einzige wahre Apostel Gottes, und alle Dinge müßten geteilt werden in gemeinschaftlicher Liebe unter den Menschen, und es sei auch erlaubt, sich unterschiedslos mit allen Weibern einzulassen, niemand könne dafür des Konkubinats angeklagt werden, nicht einmal, wenn er mit Gattin und Tochter zugleich verkehre …«
»Hat er diese Ruchlosigkeiten wirklich gepredigt, oder hat man sie ihm nur unterstellt? Ich habe nämlich gehört, daß auch die Spiritualen solcher Verbrechen bezichtigt wurden, zum Beispiel die Brüder von Montefalco …»
» De hoc satis! 57 « fuhr mir Ubertin scharf über den Mund. »Sie waren keine Brüder! Sie waren Ketzer! Und verseucht von eben jenem Dolcino! Und außerdem – hör gut zu, mein Sohn! – genügt es zu wissen, was Dolcino weiter tat, um zu erkennen, was für ein übler Ketzer er war. Man weiß nicht genau, wie er mit den Lehren der Pseudo-Apostel in Berührung kam. Vielleicht war er als junger Mensch einmal in Parma gewesen und hatte dort Segarelli predigen gehört. Man weiß nur, daß er nach Segarellis Tod eine Zeitlang im Bolognesischen Kontakte mit jenen Ketzern hatte. Und sicher ist, daß er in Trient zu predigen anfing. Dort verführte er dann ein wunderschönes Fräulein aus nobler Familie, Margaretha, oder vielleicht war es auch umgekehrt und sie verführte ihn wie Heloïse den Abaelard … Denn wisse, stets ist es das Weib, mit dessen Hilfe der Dämon in die Herzen der Männer eindringt … Jedenfalls wurde es nun dem Bischof von Trient zuviel, und er ließ den Aufrührer aus seiner Diözese verjagen. Aber Dolcino hatte inzwischen wohl tausend Menschen um sich geschart, mit denen er sich auf einen langen Marsch begab, der ihn durch die Berge in die Dörfer und Täler seiner Heimat zurückführte. Und überall, wo er hinkam, fand er
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