Der Name der Rose
neue Anhänger, die sich von seiner Predigt verführen ließen, und vermutlich schlössen sich ihm auch viele Waldenser an, die in den Bergen lebten, durch die er zog, oder vielleicht wollte er sich auch mit jenen Waldensern zusammentun. Im Novaresischen fand,er ein günstiges Klima für seine Revolte vor, denn die Vasallen, die das Dorf Gattinara im Auftrag des Bischofs von Vercelli beherrscht hatten, waren kurz zuvor von den Dörflern verjagt worden, so daß diese nun in Dolcinos Banditen willkommene Verbündete sahen.«
»Was hatten die Vasallen des Bischofs denn getan?«
»Das weiß ich nicht, und es steht mir nicht zu, darüber zu richten. Doch wie du siehst, vermählt sich die Häresie nicht selten mit der Revolte gegen die Feudalherren, und so kommt es, daß der Häretiker zwar am Anfang die hehre Armut predigt, bald aber allen Verlockungen der Macht, des Krieges und der Gewalt erliegt. So gab es zum Beispiel in der Stadt Vercelli einen Streit zwischen verfeindeten Adelsfamilien, den sich die Pseudo-Apostel zunutze machten, während jene Familien sich ihrerseits das Durcheinander zunutze machten, das durch den Eingriff der Pseudo-Apostel entstand. Unterdessen warben die Feudalherren Abenteurer und Söldner an, um die Städte zu überfallen, woraufhin die Städter den Bischof von Novara um Schutz ersuchten.«
»Mein Gott, was für eine komplizierte Geschichte! Und auf wessen Seite schlug sich Dolcino?«
»Ich weiß nicht, er war ein Kapitel für sich. Er machte sich all diese Fehden und Streitereien zunutze, um im Namen der Armut den Kampf wider das Eigentum anderer zu predigen. Er verschanzte sich mit den Seinen, die inzwischen an die dreitausend waren, auf einem hohen Berg bei Novara, den man die Kahle Wand heißt, Monte della Parete Calva, und sie bauten sich Wohnstätten und eine richtige Festung dort oben und lebten in schändlichster Unzucht, Männer und Weiber wild durcheinander, und Dolcino herrschte über die ganze Horde. Und Rundschreiben schickte er aus an seine Getreuen, in denen er seine Lehren darlegte. Die Armut müsse ihr Ideal sein, schrieb er, und sie seien an keinerlei äußere Gehorsamspflicht gebunden, und er, Dolcino, sei von Gott gesandt, um die Weissagungen zu deuten und die Schriften des Alten und Neuen Testaments auszulegen. Die Kleriker aber, ob Weltpriester, Prediger oder auch Minoriten, nannte er Diener des Teufels und entband seine Anhänger von der Pflicht, ihnen zu gehorchen. Und er unterschied vier Zeitalter im Leben der Christenheit: erstens das des Alten Testaments, der Patriarchen und der Propheten vor der Ankunft Christi, in welchem die Ehe gut war, weil sich das Volk vermehren mußte; zweitens das Zeitalter Christi und der Apostel, die Zeit der Heiligkeit und der Keuschheit; dann das dritte Zeitalter, in welchem die Päpste zunächst die irdischen Reichtümer akzeptieren mußten, um das Volk regieren zu können, doch als die Menschen sich von der Gottesfurcht abzuwenden begannen, kam Benedikt von Nursia und predigte wider allen weltlichen Besitz. Und als dann auch die Mönche des heiligen Benedikt Reichtümer aufzuhäufen begannen, kamen die Brüder des heiligen Franziskus und des heiligen Dominikus und predigten noch rigoroser und strenger als Benedikt wider die irdische Herrschaft und den weltlichen Reichtum. Nun aber, seit die Lebensführung so vieler Prälaten erneut all diesen Ermahnungen Hohn spricht, sei man ans Ende des dritten Zeitalters gelangt und müsse sich zu den Lehren des Evangeliums und der Apostel bekehren.«
»Aber dann hat Dolcino doch nur gepredigt, was auch die Franziskaner damals predigten und unter ihnen insbesondere die Spiritualen und Ihr selbst, ehrwürdiger Vater!«
»Ja schon, aber er zog daraus eine infame Schlußfolgerung! Er verkündete nämlich, um dieses dritte Zeitalter der Korruption zu beenden, müßten sämtliche Kleriker eines grausamen Todes sterben. Er verkündete, alle Prälaten der Kirche, alle Geistlichen, alle Mönche und Nonnen, auch die Brüder und Schwestern der Bettelorden, die Minoriten, die Eremiten und sogar Papst Bonifaz müßten samt und sonders vernichtet werden, und zwar von einem Kaiser, den er selbst dazu auserwählt habe, und das sei Friedrich von Sizilien.«
»Aber war es nicht gerade jener Friedrich, der den aus Umbrien vertriebenen Spiritualen auf seiner Insel Zuflucht gewährte? Und verlangen nicht auch die Minoriten, der Kaiser (mag es heute auch Ludwig der Bayer sein) solle die weltliche Macht des
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