Der Name der Rose
Beschreibung meiner nichtswürdigen Ekstase dieselben Worte gebraucht habe wie vorhin, nur wenige Seiten weiter oben, zur Beschreibung des Feuers, das den gemarterten Leib des Fratizellen Michele verbrannte. Ist es ein Zufall, daß meine Hand als getreue Dienerin meiner Seele dieselben Worte für zwei so ungleiche Dinge gebrauchte? Nein, ich glaube es nicht, denn vermutlich hatte ich damals, als ich diese Dinge erlebte, sie in derselben Weise empfunden und wahrgenommen wie heute, da ich sie beide schreibend nachzuerleben versuche.
Es gibt anscheinend eine geheime Weisheit, dank welcher Phänomene sehr verschiedener Art mit den gleichen Worten benannt werden können; es ist dieselbe Weisheit, dank welcher die himmlischen Dinge mit irdischen Namen benannt und Gott durch mehrdeutige Symbole als Löwe oder als Panther bezeichnet werden kann – und der Tod als Wunde und die Freude als Flamme und die Flamme als Tod und der Tod als Abgrund und der Abgrund als Verdammnis und die Verdammnis als Lust und die Lust als Passion.
Wie kam es, daß ich unerfahrener Jüngling damals die Todesekstase, die mich bei dem brennenden Märtyrer in Florenz so bestürzte, mit denselben Worten benannte, mit denen die heilige Hildegard einst die Ekstase des (göttlichen) Lebens beschrieben hatte? Und wie kam es, daß mir dieselben Worte jetzt auch für die (sündige und momentane) Ekstase meines irdischen Sinnengenusses einfielen, der mir doch gleich danach wie ein Gefühl des Sterbens und Vergehens erschienen war? Ich denke darüber nach und versuche, mir Klarheit über die Art meiner Wahrnehmung zu verschaffen: Klarheit über die Art und Weise, wie ich damals, im Abstand von wenigen Monaten, zwei so verschiedene, aber gleichermaßen erregende und schmerzliche Erfahrungen in mich aufnahm, Klarheit auch über die Art und Weise, wie ich an jenem Abend in der Abtei, im Abstand von kaum einer Stunde, erst die eine vor meinem geistigen Auge wiedererstehen ließ und dann die andere sinnlich erlebte, Klarheit schließlich über die Art und Weise, wie ich heute, da ich diese Zeilen schreibe, die beiden Erlebnisse nachempfunden und wie ich sie mir in allen drei Fällen gedeutet und bewußt gemacht habe mit jenen Worten der ganz anderen Erfahrung einer heiligen Seele, die sich auflöste in der Anschauung Gottes. Habe ich lästerlich gesprochen? (Damals? Heute?) Was war ähnlich, was war vergleichbar im Todesverlangen Micheles, in meiner Ekstase angesichts seines Flammentodes, in meinem Verlangen nach körperlicher Vereinigung mit dem Mädchen, in meiner mystischen Scham, mit der ich allegorisch beschrieb, was ich dabei empfand, und schließlich in jenem Verlangen nach freudiger Selbstauflösung, das die Heilige dazu trieb, an ihrer Liebe zu sterben, um weiterzuleben in Ewigkeit? Ist es möglich, daß derart uneinheitliche Phänomene so einheitlich benannt werden können? Und doch ist dies, wie mir scheint, die Lehre, die unsere größten Doctores uns hinterlassen haben: Omnis ergo figura tanto evidentius veritatem demonstrat quanto apertius per dissimilem similitudinem figuram se esse et non veritatem probat 69 . Doch wenn die Liebe zur Flamme und zum Abgrund eine Figur der Liebe zu Gott ist, kann sie dann gleichzeitig eine Figur der Liebe zum Tod und der Liebe zur Sünde sein? Ja, sie kann es, so wie der Löwe und die Schlange Figuren für Christus und für den Bösen sein können. Und wie man sie jeweils richtig zu deuten hat, kann nur von der Autorität der Patres festgesetzt werden – und da ich in der Frage, die mich hier quält, keine Auctoritas habe, an die mein gehorsamer Geist sich wenden könnte, weiß ich nicht, wie ich Klarheit gewinnen soll, und brenne weiter im Zweifel (schon wieder kommt mir die Figur des Feuers in den Sinn, diesmal zur Bezeichnung des Mangels an Wahrheit und der Fülle an Irrtum, die mich zermalmen …). Was widerfährt mir, oh Herr, was geschieht da in meiner Seele, nun, da mich die Strudel der Erinnerungen ergreifen und ich mehrere Zeiten zugleich in mir auflodern lasse, als wollte ich Hand anlegen an die Ordnung der Himmelsgestirne und an ihre kosmischen Bahnen? Kein Zweifel, ich überschreite die Grenzen meines sündigen, siechen und schwachen Verstandes! Zurück zu der Aufgabe, die ich mir in Demut gesetzt! … Wohlan, ich sprach von den Erlebnissen jener Nacht und von der totalen Gefühlsverwirrung, in die sie mich gestürzt hatten. Dies war es, was ich berichten wollte so gut es mir mein Gedächtnis erlaubt,
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