Der Name der Rose
zurück zu den Giften. Wenn jemand, der von Giften soviel versteht wie du, hier eingedrungen wäre und einige deiner Kräuter entwendet hätte, so hätte er doch gewiß ein tödliches Zeug mischen können, das solche Spuren auf den Fingern hinterlassen würde, nicht wahr? Eine Substanz, die er in eine Speise oder in ein Getränk geben könnte, auf einen Löffel oder auf irgend etwas, das man in den Mund steckt?«
»Gewiß«, bestätigte Severin. »Aber wer sollte das tun? Und selbst wenn wir die Hypothese gelten lassen, wie hätte er dann das Gift unseren beiden armen Mitbrüdern verabreicht?«
Auch ich konnte mir offen gesagt nicht vorstellen, daß Venantius oder Berengar sich bereitgefunden hätten, jemanden an sich herankommen zu lassen, der ihnen eine geheimnisvolle Substanz anbot mit der Aufforderung, sie zu verschlucken. Doch meinen Meister schien diese Sonderbarkeit nicht zu stören. »Darüber werden wir später nachdenken«, sagte er. »Jetzt möchte ich dich erst einmal bitten, ein wenig in deinem Gedächtnis zu graben. Vielleicht fällt dir etwas ein, woran du bisher nicht gedacht hast. Hat dir in letzter Zeit jemand Fragen über die Kräuter gestellt? Jemand, der sich leicht Zutritt zum Hospital verschaffen kann?«
»Warte mal«, sagte Severin und überlegte. »Vor langer Zeit, es ist schon einige Jahre her, hatte ich auf einem dieser Regale ein hochkonzentriertes Gift. Ein Mitbruder hatte es mir aus fernen Ländern mitgebracht, er wußte selbst nicht genau, woraus es bestand, vermutlich aus Kräutern, die hierzulande unbekannt sind. Es war ein dickflüssiges gelbliches Zeug, aber er riet mir, es nicht zu berühren, denn falls etwas davon auf meine Lippen käme, würde ich unweigerlich binnen kurzer Zeit sterben. Der Mitbruder sagte, selbst wenn man nur eine winzige Menge davon einnähme, würde sich nach spätestens einer halben Stunde ein Gefühl von großer Mattigkeit einstellen, dann eine langsame Lähmung aller Glieder und schließlich der Tod. Er wollte das Gift nicht bei sich behalten und schenkte es mir. Ich bewahrte es jahrelang auf, denn ich hatte immer die Absicht, es einmal genauer zu untersuchen. Dann tobte eines Tages ein heftiger Sturm über das Plateau. Einer meiner Gehilfen, ein Novize, hatte dummerweise die Tür offengelassen, so daß der Sturm den ganzen Raum, in dem wir uns hier befinden, schrecklich verwüstete. Überall lagen zerbrochene Gläser, vergossene Flüssigkeiten, verstreute Kräuter und Pulver herum. Ich brauchte einen ganzen Tag, um wieder Ordnung zu schaffen, und helfen ließ ich mir nur beim Fortschaffen der Scherben sowie der unbrauchbar gewordenen Kräuter. Am Ende mußte ich feststellen, daß genau die Flasche mit dem tödlichen Gift nicht mehr da war. Anfangs machte ich mir große Sorgen, dann sagte ich mir, daß sie wohl zerbrochen und mit den anderen Abfällen weggeworfen worden war. Ich ließ den Fußboden und die Regale gründlich reinigen …«
»Und kurz vor dem Sturm hattest du die Flasche noch gesehen?«
»Ja … beziehungsweise nein, wenn ich's genau bedenke. Sie stand gut versteckt hinter einer Reihe von Krügen, und ich hatte nicht jeden Tag nachgesehen, ob sie noch da war …»
»Also hätte sie dir auch schon vor dem Sturm gestohlen worden sein können, ohne daß es dir aufgefallen wäre?«
»Jetzt, wo ich darüber nachdenke: ja, zweifellos …«
»Und dein Novize hätte sie gestohlen und dann, als der Sturm kam, die Tür absichtlich offengelassen haben können, um bei dieser Gelegenheit deine Sachen durcheinanderzubringen?«
»Ja, sicher!« Severin war jetzt sehr aufgeregt. »Und jetzt fällt mir auch ein: Es kam mir damals recht sonderbar vor, daß der Sturm, wie heftig er auch gewesen sein mochte, ein so großes Durcheinander angerichtet hatte. Es sah wirklich ganz danach aus, als hätte sich jemand die Gelegenheit zunutze gemacht, um das Laboratorium völlig zu verwüsten …«
»Wer war jener Novize?«
»Er hieß Augustin. Aber er ist letztes Jahr gestorben – von einem Gerüst gestürzt, beim Reinigen der Skulpturen am Kirchenportal … Und außerdem, wenn ich's recht bedenke, hatte er damals Stein und Bein geschworen, daß er die Tür nicht offengelassen hätte vor dem Sturm. Ich war es, der ihn hinterher in meiner Wut dafür verantwortlich machte. Vielleicht war er wirklich unschuldig.«
»So gab es mithin einen Dritten, der über dein Gift Bescheid wußte und der womöglich sehr viel erfahrener war als ein Novize. Mit wem hattest du
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