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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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innehaltend, um die Arbeit der Bauern und Knechte zu bewundern und mich zu zerstreuen in ihrer Kontemplation, wobei ich mit vollen Lungen die frische Morgenluft einsog wie einer, der sich am Wein berauscht, um Sorgen und Angst zu vergessen.
    Vergebens: ich dachte immerfort an das Mädchen. Mein Leib hatte die süße, sündhafte und vergängliche Lust vergessen, die mir das Verschmelzen mit jener zarten Gestalt verschafft, meine Seele jedoch entsann sich aufs lebhafteste ihres Angesichtes, und es wollte mir nicht gelingen, dieses beharrliche Nichtvergessenkönnen irgendwie als pervers zu empfinden. Im Gegenteil, ich bebte vor Glück, als erstrahlten in jenem lieblichen Angesicht alle Herrlichkeiten der Schöpfung.
    Ja, ich gestehe es: Wirr und gleichsam mir selbst die Wahrheit verbergend ging mir auf, daß jene armselige, schmutzbefleckte und schamlose Kreatur, die sich anderen Sündern verkaufte (und wer weiß, mit welch dreister Beständigkeit), daß jene Tochter Evas, die da, schwach wie alle ihre Schwestern, mit ihrem eigenen Körper Handel trieb – daß sie gleichwohl etwas Wunderbares und Herrliches war! Mein Verstand erkannte sie als einen Herd der Sünde, mein Sinnendrang erfühlte sie als einen Inbegriff aller Anmut. Es fällt mir schwer zu erklären, was ich empfand. Ich könnte versucht sein zu sagen, daß ich, noch immer verstrickt in den Netzen der Sünde, sie schuldhafterweise wiederzusehen begehrte und die Arbeit der Dörfler mit geradezu spähenden Blicken verfolgte in der Hoffnung, die zarte Gestalt, die mich verfuhrt hatte, jeden Moment irgendwo aus einer Ecke des Hofes oder aus einer Stalltür hervortreten zu sehen. Doch das wäre nicht die volle Wahrheit, es wäre vielmehr der Versuch, einen Schleier über die Wahrheit zu breiten, um ihre Kraft und Evidenz ein wenig zu mildern. Denn die volle Wahrheit ist: Ich »sah« sie! Ich sah sie im kahlen Gezweig der Bäume, das leicht erzitterte, wenn ein erschrockener Sperling aufflog; ich sah sie in den Augen der Fohlen, die munter aus dem Pferdestall strömten; ich hörte sie im Blöken der Schafe, die meinen Irrweg kreuzten. Es war, als spräche die ganze Schöpfung allein von ihr, und ich begehrte, jawohl, sie wiederzusehen, während ich im gleichen Moment bereit war, mich abzufinden mit dem Gedanken, sie niemals wiederzusehen, mich niemals wieder mit ihr zu vereinigen, sofern es mir nur vergönnt blieb, die Freude weiterhin zu genießen, die mich an diesem Morgen erfüllte, und sie mir immer nahe zu wissen, mochte sie mir auch auf ewig fern sein. Ja, es kam mir so vor (heute versuche ich es zu begreifen), als spräche das ganze Universum, das zweifellos wie ein Buch von Gottes eigener Hand ist, in welchem alles von der unendlichen Güte des Schöpfers kündet, in welchem jedes Geschöpf gleichsam Schrift und Spiegel des Lebens und Sterbens ist, so daß noch die geringste Rose zu einer Glosse unseres irdischen Daseins werden kann – als spräche, mit einem Wort, alles nur immerfort von jenem lieblichen Antlitz, das ich schemenhaft wahrgenommen im duftgeschwängerten Zwielicht der nächtlichen Küche. Und selig überließ ich mich meinen Phantasien, denn ich sagte mir (oder vielmehr, ich sagte es nicht, denn was mich an jenem Morgen erfüllte, waren keine Gedanken, die sich in Worte fassen ließen): Wenn einerseits die ganze Schöpfung von der Güte und Macht und Weisheit des Schöpfers kündete und wenn andererseits alles an jenem Morgen in meinen Augen und Ohren allein von ihr sprach, von ihr, die doch (wenngleich als Sünderin) immerhin auch ein Kapitel im großen Buche der Schöpfung war, ein winziger Vers im gewaltigen Psalm des Kosmos – dann, so sagte ich mir (sage ich heute), konnte auch jener nächtliche Zwischenfall letztlich nichts anderes sein als ein Teil der göttlichen Vorsehung, die das Universum lenkt und die es geordnet sein läßt nach Art einer Harfe zu einem Wunder von Harmonie und Zusammenklang. Wie trunken genoß ich die Anwesenheit des Mädchens in allen Dingen, die ich rings um mich her erblickte, und während ich sie in den Dingen begehrte, empfand ich Befriedigung in ihrem Anblick. Zugleich aber quälte mich auch ein Schmerz, denn bei allem Glück über diese vielen Einbildungen einer Präsenz litt ich auch unter einer Absenz. Es fällt mir nicht leicht, diesen mysteriösen Widerspruch zu erklären – ein Zeichen für die Gebrechlichkeit des menschlichen Geistes, der das Universum zwar wie einen perfekten Syllogismus

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