Der Name der Rose
zu betrachten nicht nur die Modi und Numeri und Ordines aller Dinge, die so trefflich gesetzt und eingerichtet im ganzen Universum, sondern auch das Verstreichen der Zeiten, die sich unaufhörlich entrollen durch Sukzessionen und Niedergänge, gezeichnet vom Sterben alles Geborenen! Ja, ich gestehe es, als der Sünder, der ich bin: Meine eben noch in den Niederungen des Fleisches befangene Seele quoll über von einer spirituellen Rührung für den Schöpfer und die Regeln dieser Welt, und mit freudiger Andacht bewunderte ich die Größe und Stabilität der Schöpfung.
In dieser schönen Geistesverfassung fand mich mein Meister, als ich, dem Drang meiner Füße folgend, nach einem Rundgang durch fast die gesamte Abtei an jenen Ort zurückkehrte, den ich vor zwei Stunden verlassen hatte. Dort nämlich stand William, und was er mir zu sagen hatte, riß mich brüsk aus meinem hehren Gedanken und brachte mich wieder zurück zu den dunklen Geheimnissen der Abtei.
William sah sehr zufrieden aus. In der Hand hielt er den Pergamentbogen des Venantius, den er endlich entziffert hatte. Wir gingen in seine Zelle, um vor Lauschern sicher zu sein, und er übersetzte mir, was er gelesen hatte. Der griechische Text nach dem Satz in Geheimschrift mit Tierkreiszeichen (» Secretum finis Africae manus supra idolum age primum et septimum de quatuor «) besagte folgendes:
Das entsetzliche Gift, das Reinigung bringt …
Die beste Waffe, um den Feind zu vernichten …
Mach dir die häßlichen und gemeinen niederen Leute zunutze, ziehe Vergnügen aus ihren Mängeln … Sie dürfen nicht sterben … Nicht in den Häusern der Adligen und der Mächtigen, sondern aus den Dörfern der Bauern, nach reichlichem Mahle und Trankopfern … Plumpe Leiber, entstellte Gesichter …
Sie schänden Jungfrauen und liegen arglos bei Huren, ohne Furcht.
Eine andere Wahrheit, ein anderes Bild der Wahrheit …
Die verehrungswürdigen Feigen.
Der schamlose Felsblock rollt über die Ebene … Vor die Augen.
Täuschen muß man und durch Täuschungen überraschen, das Gegenteil des Erwarteten sagen, eines sagen und damit etwas anderes meinen. Für sie werden die Zikaden am Boden singen.
Das war alles. Nach meinem Dafürhalten etwas wenig, eigentlich nichts. Es klang wie das Gefasel eines Verrückten, und das sagte ich meinem Meister.
»Mag sein, und in meiner Übersetzung klingt es vielleicht noch verrückter. Ich habe nur eine ungefähre Kenntnis des Griechischen. Aber angenommen, daß Venantius verrückt war, oder daß der Autor des Buches verrückt war, so würde uns das nicht erklären, warum so viele Leute, die gewiß nicht alle verrückt waren, unbedingt jenes Buch verstecken beziehungsweise in die Hand bekommen wollten …«
»Meint Ihr denn, daß diese Worte aus dem geheimnisvollen Buch stammen?«
»Es sind zweifellos Worte, die Venantius geschrieben hat. Du siehst selbst, es handelt sich nicht um ein altes Pergament. Es müssen Notizen sein, die sich Venantius beim Lesen gemacht hat, sonst hätte er sie nicht auf griechisch geschrieben. Er hat gewiß Sätze und Satzfragmente notiert, die er in dem Buch aus dem Finis Africae fand. Er hat das Buch ins Skriptorium getragen und dort zu lesen begonnen, wobei er sich hier und da etwas notierte, was ihm bemerkenswert schien. Dann kam vermutlich etwas dazwischen. Entweder fühlte er sich plötzlich unwohl, oder er hörte jemanden kommen. So schob er das Buch mitsamt den Notizen in das Regal unter seinem Tisch, gewiß in der Absicht, es sobald wie möglich wieder hervorzuholen … In jedem Falle haben wir nur dieses Blatt, um auf die Natur des mysteriösen Buches zu schließen, und nur anhand der Natur jenes Buches wird es uns möglich sein, auf die Natur des Mörders zu schließen. Denn bei jedem Verbrechen, das begangen worden ist, weil der Verbrecher sich eines Gegenstandes bemächtigen wollte, liefert die Art dieses Gegenstandes einen wenn auch schwachen Hinweis auf den Charakter des Mörders. Wenn ein Mord geschehen ist wegen einer Handvoll Goldes, so wird der Mörder zweifellos habgierig sein; wenn er gemordet hat, um ein Buch zu bekommen, so wird er die Geheimnisse dieses Buches für sich bewahren wollen. Wir müssen also herausfinden, was in dem Buch, das wir nicht haben, stehen mag.«
»Und Ihr wärt tatsächlich imstande, aus diesen wenigen Zeilen auf den Inhalt des Buches zu schließen?«
»Mein lieber Adson, dies sind, so scheint mir, Worte eines heiligen Textes, dessen Bedeutung
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