Der Name der Rose
über den schlichten Wortlaut hinausgeht. Als ich sie heute morgen nach unserem Gespräch mit dem Cellerar las, fiel mir als erstes auf, daß auch hier wieder von einfachen Leuten und Bauern als Träger einer anderen Wahrheit die Rede ist, einer anderen Wahrheit als jener der Gebildeten. Der Cellerar hat durchblicken lassen, daß ihn eine sonderbare Komplizenschaft mit Malachias verbindet. Was, wenn nun Malachias einen gefährlichen Ketzertext versteckt hielte, den Remigius ihm womöglich anvertraut hat? Dann hätte Venantius vielleicht irgendeine geheime Lehre gelesen, einen Text über eine verschworene Gemeinschaft von groben und niederen Leuten, die gegen alles und jeden rebellierten … Allerdings …«
»Allerdings?«
»Allerdings spricht zweierlei gegen diese Hypothese: Erstens war Venantius kaum an solchen Fragen interessiert; er war ein Übersetzer griechischer Texte, kein Prediger häretischer Irrlehren … Und zweitens würden Sätze wie die mit den Feigen, dem Stein oder den Zikaden durch diese Hypothese nicht erklärt …«
»Vielleicht sind es Rätselsätze, die eine andere Bedeutung haben«, regte ich an. »Oder habt Ihr eine andere Hypothese?«
»Ich habe eine, aber sie ist noch unklar. Mir scheint, als ob ich einige dieser Worte schon irgendwo gelesen hätte, sie erinnern mich an ähnliche, die ich früher gehört habe. Mir scheint sogar, als sei hier von Dingen die Rede, über die wir in den letzten Tagen bereits gesprochen haben … Aber ich kann mich nicht recht erinnern. Ich muß darüber nachdenken. Vielleicht muß ich erst noch andere Bücher lesen.«
»Wie das? Um zu erfahren, was ein Buch enthält, müßt Ihr andere Bücher lesen?«
»Manchmal ist das ganz nützlich. Oft sprechen die Bücher von anderen Büchern. Oft ist ein harmloses Buch wie ein Samenkorn, das in einem gefährlichen Buch aufkeimt, oder es ist umgekehrt die süße Frucht einer bitteren Wurzel. Könntest du nicht zum Beispiel erfahren, was Thomas gedacht hat, wenn du Albertus liest? Oder aus den Schriften des Thomas erraten, was Averroës lehrte?«
»Ja, das ist wahr«, sagte ich bewundernd. Bisher hatte ich immer gedacht, die Bücher sprächen nur von den menschlichen oder göttlichen Dingen, die sich außerhalb der Bücher befinden. Nun ging mir plötzlich auf, daß die Bücher nicht selten von anderen Büchern sprechen, ja, daß es mitunter so ist, als sprächen sie miteinander. Und im Licht dieser neuen Erkenntnis erschien mir die Bibliothek noch unheimlicher. War sie womöglich der Ort eines langen und säkularen Gewispers, eines unhörbaren Dialogs zwischen Pergament und Pergament? Also etwas Lebendiges, ein Raum voller Kräfte, die durch keinen menschlichen Geist gezähmt werden können, ein Schatzhaus voller Geheimnisse, die aus zahllosen Hirnen entsprungen sind und weiterleben nach dem Tod ihrer Erzeuger? Oder diese fortdauern lassen in sich?
»Wozu nützt es dann, Bücher zu verbergen«, fragte ich, »wenn man aus den zugänglichen auf die unzugänglichen schließen kann?«
»Im Fortgang der Jahrhunderte nützt es nichts. Im Fortgang der Jahre schon. Du siehst ja, wie sehr wir im dunkeln tappen.«
»Demnach ist eine Bibliothek nicht ein Mittel, um die Wahrheit zu verbreiten, sondern um ihr Aufscheinen zu verzögern?« fragte ich verblüfft.
»Nicht immer und nicht notwendigerweise. Aber hier schon.«
SEXTA
Worin Adson Trüffel suchen geht und die eintreffenden Minoriten findet, diese ein langes Gespräch mit William und Ubertin führen und man allerhand Trauriges über Papst Johannes XXII. erfährt.
Nach diesen Erwägungen faßte mein Meister den Beschluß, vorerst gar nichts zu tun. Ich habe schon eingangs erwähnt, daß ihn zuweilen solche Momente totaler Untätigkeit überfielen, als wären die Gestirne auf ihrer himmlischen Kreisbahn plötzlich zum Stillstand gekommen und er mit ihnen. So auch an diesem Morgen. Er streckte sich auf seiner Strohmatte aus, starrte mit offenen Augen ins Leere, die Hände über der Brust gefaltet, und bewegte nur schwach seine Lippen, als rezitierte er ein Gebet, aber unregelmäßig und ohne Andacht.
Ich beschloß, seine Meditation zu respektieren, und trat in den Hof hinaus. Die Sonne hatte sich merklich verdunkelt, aus dem schönen und klaren Morgen war (inzwischen nahte bereits die Mittagsstunde) ein trüber, naßkalter Tag geworden. Große Wolken zogen im Norden auf und legten sich über den Gipfel des Berges, der zusehends hinter einem grauen Schleier verschwand.
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