Der Name der Rose
Schluchten pfiff, meinte man noch den steten Kampf zwischen milden Meeresbrisen und rauhen Gebirgsböen hören zu können.
An diesem Mittag hingegen war alles grau, ja geradezu milchig weiß, und kein Horizont war zu sehen, auch wo das Tal sich zum Meer hin öffnete. – Doch ich verliere mich in Erinnerungen, die von geringem Interesse für den Fortgang des Geschehens sind und meinen geduldigen Leser ermüden. So will ich denn hier nicht von den Wechselfällen unserer Suche nach »der Teifi« berichten, sondern lieber gleich sagen, daß ich als erster die herannahende Legation der Minoriten erblickte und rasch zurücklief, um William ihre Ankunft zu melden.
Mein Meister wartete, bis die Neuankömmlinge eingetroffen und gebührend vom Abt begrüßt worden waren. Dann trat er ihnen entgegen, und es folgte ein allgemeines Umarmen und brüderliches Herzen und Küssen.
Die Stunde des Mittagsmahles war schon vorüber, doch für die Gäste hatte man einen Tisch gedeckt, und der Abt war so taktvoll, sie mit William allein zu lassen, entbunden von den Pflichten der Regel und frei, sich zu stärken und ihre ersten Eindrücke auszutauschen – handelte es sich doch schließlich, Gott vergebe mir den etwas ungebührlichen Vergleich, um eine Art Kriegsrat, der unverzüglich zu halten war, bevor die gegnerische Abordnung eintraf, will sagen die päpstliche Legation.
Überflüssig zu sagen, daß auch Ubertin von Casale sogleich zu den Neuankömmlingen stieß, die ihn überrascht, erfreut und voller Verehrung begrüßten – hatten sie ihn doch seit langem verschollen geglaubt, sich große Sorgen um ihn gemacht und schon das Schlimmste befürchtet für diesen mutigen Kämpfer, der seit Jahrzehnten unermüdlich und unbeugsam dieselbe Sache vertrat wie sie.
Von den Brüdern, aus denen die Legation bestand, werde ich später genauer sprechen, wenn ich über die Zusammenkünfte des folgenden Tages berichte. Auch weil ich bei dieser ersten Begegnung sehr wenig mit ihnen sprach, denn meine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das nun unverzüglich einsetzende Dreiergespräch zwischen William, Ubertin und Michael von Cesena.
Michael muß ein recht eigenartiger Mensch gewesen sein: glühend in seiner franziskanischen Leidenschaft (sein Tonfall und seine Gesten ähnelten manchmal fast denen des mystisch entrückten Ubertin), dabei sehr menschlich und jovial in seiner irdischen Wesensart als Italiener aus der Romagna, der eine gute Küche zu schätzen weiß und einen fröhlichen Umtrunk mit Freunden liebt; feinsinnig und sprunghaft-schwärmerisch, im nächsten Moment jedoch lauernd und schlau wie ein Fuchs, ja hinterhältig und zäh wie ein Maulwurf, wenn es um Fragen des Verhältnisses zwischen den Mächtigen ging; fähig zu großem Gelächter, zu heftiger Anspannung und zu beredtem Schweigen; sehr geschickt auch, wenn es galt, den Zerstreuten zu spielen, um einer unliebsamen Frage auszuweichen.
Ich habe schon mehrfach im Laufe meines Berichtes von ihm gesprochen, aber dabei stets nur Dinge erwähnt, die ich von anderen gehört hatte, von Leuten, die sie womöglich auch nur vorn Hörensagen wußten. Nun jedoch, da er leibhaftig vor mir saß, verstand ich vieles besser von seinen widersprüchlichen Haltungen und wiederholten politischen Kurswechseln, mit denen er in den letzten Jahren sogar seine Freunde und Anhänger oft überrascht hatte. Als Ordensgeneral der Franziskaner war er im Prinzip der Erbe des heiligen Franz und de facto der Erbe seiner Interpreten. Er mußte also mit der Weisheit und Heiligkeit eines Vorgängers wie Bonaventura von Bagnoregio konkurrieren, er mußte die Respektierung der Regel gewährleisten, aber zugleich auch das Wohl des groß und mächtig gewordenen Ordens; er mußte sein Ohr den Fürstenhöfen und städtischen Magistraten leihen, von denen der Orden – wenn auch in Form von Almosen – Schenkungen und Hinterlassenschaften, Keime zu Wohlstand und Reichtum bezog, und er mußte gleichzeitig darauf achten, daß die eifrigsten Spiritualen in ihrem Bedürfnis nach Buße und Armut nicht dem Orden entglitten oder gar aus der ruhmreichen Bruderschaft, deren Haupt er war, einen Haufen häretischer Banden machten. Er mußte allen zugleich gefallen: dem Papst, dem Kaiser, den kleinen Brüdern des armen Lebens, dem heiligen Franz, der ihn gewiß vom Himmel herab überwachte, und dem Christenvolk, das ihn auf Erden beobachtete. Als Papst Johannes sämtliche Spiritualen zu Ketzern verurteilt hatte, zögerte
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