Der Name der Rose
Freund meines Meisters, dem anderen William, dem von Ockham, und dessen Ideen zu teilen begonnen (die nicht sehr anders waren, höchstens noch radikaler, als die Ideen, die mein Meister mit seinem Freund Marsilius von Padua teilte und die er an jenem Morgen im Kapitelsaal dargelegt hatte). Doch wie auch immer, das Leben jener Dissidenten wurde allmählich prekär am päpstlichen Hofe, und Ende Mai begaben sich Michael, William von Ockham, Bonagratia von Bergamo, Franciscus von Ascoli und Heinrich von Talheim auf die Flucht, verfolgt von den Männern des Papstes nach Nizza, Toulon, Marseilles und Aigues Mortes, wo sie schließlich von Kardinal Pierre de Arrablay eingeholt wurden, der sie dringlich zur Rückkehr zu überreden versuchte, ohne jedoch ihren Widerstand, ihren Haß auf den Papst und ihre Angst überwinden zu können. Im Juni gelangten sie schließlich nach Pisa, wo sie im Triumph von den Kaiserlichen empfangen wurden, und in den folgenden Monaten predigte Michael öffentlich gegen die »Blasphemien« des Papstes. Zu spät allerdings: Der Glücksstern des Kaisers war schon im Sinken begriffen, Johannes spann von Avignon aus seine Fäden, um den Minoriten einen neuen Ordensgeneral aufzuzwingen, und schaffte es schließlich auch. Michael mußte Italien verlassen und verbrachte, wenn ich recht unterrichtet bin, den Rest seines Lebens als verketzerter Emigrant an der Seite Williams von Ockham in München … So wäre es zweifellos besser gewesen, wenn er an jenem schicksalsträchtigen Tage nicht beschlossen hätte, um jeden Preis nach Avignon zu gehen: Er hätte den Widerstand der Minoriten aus der Nähe stärken können, ohne soviel Zeit zu verlieren und sich monatelang in die Hand seines Feindes zu begeben, was seine Stellung im Orden nur schwächte … Aber vielleicht hatte die göttliche Vorsehung alles schon längst so beschlossen, und ehrlich gesagt, ich weiß heute nicht mehr, wer damals wirklich im Recht war, und nach so vielen Jahren erlischt auch das Feuer der Leidenschaft, zusammen mit dem, was man einst für das Licht der Wahrheit hielt. Wer von uns Heutigen könnte noch sagen, ob Hektor oder Achilles, Agamemnon oder der greise Priamos damals im Recht waren, als sie einander bekriegten um den Besitz einer schönen Frau, deren Asche nun längst zerstoben ist in alle Winde?
Doch ich verliere mich in melancholische Abschweifungen. Verzeih, mein geduldiger Leser, und laß mich das Ende jenes tristen Gesprächs im nebligen Kreuzgang berichten. Michael hatte, wie gesagt, seinen Beschluß gefaßt, und nichts konnte ihn mehr davon abbringen. Doch es gab noch ein zweites Problem, und William sprach es ohne Umschweife aus: Ubertin selbst war nicht mehr in Sicherheit! Die drohenden Worte, die Bernard an ihn gerichtet hatte, der Haß, den der Papst auf ihn nährte, die Tatsache, daß Ubertin – während Michael immerhin eine Macht repräsentierte, mit der man verhandeln mußte – nur für sich selbst stand …
»Johannes will Michael an seinem Hofe sehen und Ubertin in der Hölle«, stellte William fest. »Wie ich Bernard kenne, besteht die akute Gefahr, daß Ubertin noch heute nacht, zumal wenn dieser Nebel anhält, ermordet wird. Und sollte morgen früh jemand fragen, von wem – nun, diese Abtei wird leicht noch ein weiteres Verbrechen ertragen können … Man wird sagen, es seien die Teufel gewesen, die Remigius mit seinen schwarzen Katzen beschworen hat, oder vielleicht ein weiterer Dolcinianer, der noch in diesen Mauern umgeht …«
Ubertin war beunruhigt. »Was rätst du mir?«
»Ich rate dir«, sagte William, »geh zum Abt, laß dir ein Reittier geben und Proviant und ein Empfehlungsschreiben an eine Abtei irgendwo im Norden, jenseits der Alpen, und nutze die Dunkelheit und den Nebel, um sofort aufzubrechen.«
»Werden die Bogenschützen nicht das Tor bewachen?«
»Die Abtei hat noch andere Ausgänge, und der Abt kennt sie. Es genügt, daß dich ein Knecht an einer der unteren Kehren mit einem Reittier erwartet, und wenn du hier irgendwo durch die Mauer verschwunden bist, brauchst du nur noch ein kurzes Stück durchs Gehölz zu gehen. Beeile dich, solange Bernard noch im Hochgefühl seines Sieges schwelgt. Ich muß mich um etwas anderes kümmern, ich hatte zwei Missionen, eine davon ist gescheitert, jetzt will ich zumindest die andere erfolgreich beenden. Ich muß ein Buch in die Hand bekommen – und einen Mann. Wenn alles gutgeht, bist du weg, bevor ich zurückkomme. Also leb wohl, Ubertin!«
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