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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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eine Gerechtigkeit gäbe, müßte ihn heute nacht der Teufel holen.«

KOMPLET
    Worin man einer Predigt über das Kommen des Antichrist lauscht und Adson die Macht der Namen entdeckt.
    Der Vespergottesdienst war recht unruhig verlaufen, das Verhör des Cellerars war noch im Gange gewesen, viele Mönche hatten gefehlt, viele Novizen waren der Aufsicht ihres Meisters entschlüpft, um durch Fenster und Türspalt die Ereignisse im Kapitelsaal mitzubekommen. So war es nun höchste Zeit, daß die versammelte Bruderschaft für die Seele des toten Severin betete. Wir nahmen an, der Abt werde zur Komplet eine Predigt halten, und fragten uns, was er wohl sagen würde. Tatsächlich trat er nach der liturgischen Homilie des Sankt Gregor, dem Responsorium und den drei vorgeschriebenen Psalmen auf die Kanzel, doch nur um zu verkünden, daß er an diesem Abend schweigen werde. Zuviel Unheil sei über die Abtei hereingebrochen, sagte er, als daß der gemeinsame Vater jetzt, wie es erforderlich sei, im Tone des Tadels und der Ermahnung predigen könne. Alle ohne Ausnahme müßten sich einer strengen Gewissensprüfung unterziehen. Da jedoch einer predigen müsse, schlage er vor, die Ermahnung des ältesten Mitbruders anzuhören, der, weil dem Tode am nächsten, von allen am wenigsten in jene irdischen Leidenschaften verstrickt sei, die soviel Unheil verursacht hätten. Dem Range des Alters entsprechend würde das Wort mithin Alinardus von Grottaferrata gebühren, doch alle wüßten, wie gebrechlich die Gesundheit dieses verehrungswürdigen Mitbruders sei. Als nächster nach Alinardus gemäß der Ordnung des unerbittlichen Ablaufs der Zeiten komme Jorge von Burgos. Ihm erteile der Abt nun das Wort.
    Ein Raunen ging durch jenen Teil des Chorgestühls, wo gewöhnlich Aymarus und die anderen Italiener saßen. Vermutlich, so dachte ich mir, hatte der Abt den greisen Alinardus gar nicht erst gefragt, bevor er Jorge das Wort erteilte. William wies mich leise daraufhin, daß es eine sehr kluge Entscheidung des Abtes war, an diesem Abend nicht zu sprechen, wäre doch alles, was immer er auch gesagt hätte, von Bernard und den übrigen Avignonesern sehr genau registriert worden. Der alte Jorge hingegen würde sich wohl auf eine seiner mystischen Weissagungen beschränken, und dem würden die Avignoneser kein großes Gewicht beimessen. »Ich aber schon«, fugte William hinzu, »denn ich glaube nicht, daß Jorge eingewilligt, ja womöglich den Abt geradezu um das Wort gebeten hat, ohne ein bestimmtes Ziel zu verfolgen.«
    Jorge stieg auf die Kanzel, gestützt von einem Novizen. Sein Antlitz wurde erleuchtet von der einzigen Fackel, die das Kirchenschiff matt erhellte auf dem hohen Dreifuß im Chor. Das flackernde Licht betonte die Dunkelheit um seine Augenhöhlen, die wie zwei schwarze Löcher erschienen.
    »Verehrte Brüder«, begann er, »und ihr, unsere lieben Gäste, so wollet denn nun den Worten dieses armen Greises lauschen … Die vier Todesfälle, die unsere Abtei verdüstert haben – um nur von den Toten zu reden und nicht von den alten und neuen Sünden der Unseligsten unter den Lebenden – diese vier Todesfälle sind nicht, wie ihr wißt, den Härten der Natur zuzuschreiben, die unabänderlich in ihren Rhythmen unser irdisches Dasein regelt von der Wiege bis zur Bahre. Ihr alle denkt jetzt vielleicht, diese schmerzlichen Fälle, so sehr sie euch auch mit Trauer erfüllen, beträfen nicht eure Seelen, da ihr alle bis auf einen unschuldig wäret, und wenn dieser eine bestraft worden sei, bleibe euch zwar noch die Klage über den Fortgang der Dahingeschiedenen, aber von einer Anklage brauchtet ihr selbst euch nicht reinzuwaschen vor dem Throne des Herrn. So meint ihr. Narren!« rief Jorge mit Donnerstimme. »Narren und Pharisäer! Wer getötet hat, trägt die Last seiner Schuld vor Gott, doch nur weil er es hingenommen hat, sich zum Vollstrecker der Pläne Gottes zu machen. So wie es notwendig war, daß jemand Unseren Herrn Jesus verriet in Gethsemane, damit das Mysterium der Erlösung vollbracht werden konnte, und doch bestrafte der Herr mit Verdammnis und ewiger Schande den, der da verraten hatte, so hat auch in diesen Tagen hier jemand gesündigt, indem er uns Tod und Verderben brachte. Ich aber sage euch, dieses Verderben ist, wenn nicht von Gott gewollt, so doch zumindest zugelassen worden von Gott als Strafe für unsere Hoffart!«
    Er verstummte und ließ den leeren Blick über die dunkle Versammlung gleiten, als könne er mit den

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