Der Name der Rose
ihre Schuld auch erwiesen sein; viertens, wer Kritik übt an den Verfolgern der Ketzer und an denen, die erfolgreich gegen das Ketzertum predigen (und er braucht die Kritik gar nicht laut zu üben, man kann sie ihm schon an den Augen, an der Nasenspitze ansehen, am Gesichtsausdruck, wenn er unwillkürlich seinen Haß auf diejenigen bekundet, die er verabscheut, und seine Liebe zu denen, deren Mißgeschick er beklagt); fünftes Kennzeichen ist schließlich, wenn jemand die Knochen verbrannter Ketzer sammelt und zum Gegenstand seiner Verehrung macht … Aber ich messe auch einem sechsten Kennzeichen größten Wert bei: Offenkundige Helfershelfer der Ketzer sind in meinen Augen auch jene, deren Schriften (auch wenn sie nicht unverhüllt den rechten Glauben bekämpfen) den Ketzern die Prämissen geliefert haben, aus denen sie ihre perversen Schlußfolgerungen zogen.«
Sprach's und fixierte Ubertin. Alle anwesenden Franziskaner begriffen sofort, worauf er anspielte. Das Treffen war definitiv gescheitert, niemand hätte es jetzt noch gewagt, die Debatte vom Vormittag wiederaufzunehmen, jedes weitere Wort wäre zwangsläufig an den schlimmen Ereignissen der vergangenen Stunde gemessen worden. Wenn Bernard Gui vom Papst geschickt worden war, um eine Verständigung der beiden Legationen zu vereiteln, so hatte er seinen Auftrag glänzend erfüllt.
VESPER
Worin Ubertin die Flucht ergreift, Benno sich an die Gesetze zu halten beginnt und William einige Betrachtungen anstellt über die verschiedenen Arten von Wollust, die an jenem Tage zum Vorschein gekommen sind.
Während der Saal sich langsam leerte, kam Michael von Cesena zu meinem Meister, und gleich darauf trat auch Ubertin zu den beiden. Wir gingen gemeinsam hinaus und begaben uns in den Kreuzgang, um ungestört reden zu können im Schütze des Nebels, der sich noch immer nicht auflösen wollte, ja mit zunehmender Dunkelheit eher noch dichter wurde.
»Was geschehen ist, bedarf wohl keines weiteren Kommentars«, sagte William. »Bernard hat uns besiegt. Fragt mich nicht, ob dieser arme Teufel von Dolcinianer wirklich schuldig an all den Verbrechen ist. Die Morde in der Abtei gehen jedenfalls nicht aufsein Konto, soweit ich sehen kann. Tatsache ist, daß wir wieder am Anfang stehen. Johannes will dich ohne Begleitschutz in Avignon haben, Michael, und das Treffen hat dir nicht die gewünschten Garantien erbracht. Im Gegenteil, es hat dir eher einen Vorgeschmack davon gegeben, wie man dir jedes Wort im Munde umdrehen kann, wenn du erst einmal dort bist. Woraus meines Erachtens zu schließen wäre, daß du nicht hingehen solltest.«
Michael schüttelte heftig den Kopf. »Ich werde hingehen, Bruder. Ich will kein Schisma. Du hast heute morgen sehr deutlich gesagt, was du willst, das war mutig und klärend. Aber ich will etwas anderes, und ich sehe jetzt, daß die kaiserlichen Theologen unsere Beschlüsse von Perugia benutzt haben, um weit über unsere Intentionen hinauszugehen. Ich will, daß der Papst dem Minoritenorden seine Armutsideale zugesteht. Und der Papst muß begreifen, daß der Orden seine häretischen Wucherungen und Auswüchse nur wieder in den Griff bekommt, wenn er sich die Ideale der Armut zu eigen macht. Ich träume nicht von einer Volksversammlung oder von einem Recht der Völker. Ich muß verhindern, daß der Orden in eine Vielzahl von Fratizellen zerfällt. Ich werde also nach Avignon gehen und, wenn nötig, einen Akt der Unterwerfung vollziehen. Über alles werde ich mit mir reden lassen, außer über das Armutsprinzip.«
»Du weißt hoffentlich«, sagte Ubertin, »daß du dort dein Leben riskierst!«
»Mag sein«, erwiderte Michael. »Lieber das Leben riskieren als die Seele.«
Er riskierte wirklich sein Leben, und wenn Johannes im Recht war (woran ich allerdings heute noch zweifle), verlor er dabei sein Seelenheil. Wie heute jedermann weiß, ging Michael eine Woche nach den Ereignissen, die ich hier berichte, tatsächlich an den Hof des Papstes nach Avignon. Vier Monate hielt er ihm stand, bis Johannes im April des folgenden Jahres ein Konsistorium einberief, auf dem er den Ordensgeneral der Franziskaner nicht nur tollkühn, verwegen, starrsinnig und tyrannisch nannte, sondern auch einen Helfershelfer der Häresie und eine Schlange am Busen der Kirche. Und man kann sogar sagen, daß Johannes inzwischen, aus seiner Sicht der Dinge, nicht mehr so ganz im Unrecht war, denn im Laufe jener vier Monate hatte Michael Freundschaft geschlossen mit dem
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