Der Name der Rose
Augen ihre Gefühle erspähen. In Wahrheit genoß er jedoch mit den Ohren ihr betroffenes Schweigen.
»In dieser Bruderschaft«, fuhr er fort, »züngelt seit langem die Natter der Hoffart. Doch welcher Hoffart? Der Hoffart des Spiels mit der Macht, hier in diesem weltabgeschiedenen Kloster? Gewiß nicht. Der Hoffart des Reichtums? Ach, meine Brüder, schon ehe die Welt widerhallte von langen Querelen über die Armut und den Besitz, schon seit den Zeiten unseres heiligen Ordensgründers haben wir, auch wenn wir alles hatten, nie etwas besessen, stets war unser einziger wahrer Reichtum die Befolgung der Regel, das Gebet und die Arbeit. Doch zur Arbeit, zur Arbeit unseres Ordens und insbesondere dieses Klosters gehört – und zwar als ihr Wesenskern – das Studium und die Bewahrung des Wissens. Ich sage Bewahrung und nicht Erforschung, denn es ist das Proprium des Wissens als einer göttlichen Sache, daß es abgeschlossen und vollständig ist seit Anbeginn in der Vollkommenheit des Wortes, das sich ausdrückt um seiner selbst willen. Ich sage Bewahrung und nicht Erforschung, denn es ist das Proprium des Wissens als einer menschlichen Sache, daß es vollendet und abgeschlossen worden ist in der Zeitspanne von der Weissagung der Propheten bis zu ihrer Deutung durch die Väter der Kirche. Es gibt keinen Fortschritt, es gibt keine epochale Revolution in der Geschichte des Wissens, es gibt nur fortdauernde und erhabene Rekapitulation. Die Geschichte der Menschheit schreitet voran in unaufhaltsamem Laufe von der Schöpfung durch die Erlösung bis zur Wiederkunft des triumphierenden Christus, der herabfahren wird in strahlendem Glänze, zu richten die Lebendigen und die Toten, doch das göttliche und menschliche Wissen folgt diesem Laufe nicht: Fest wie ein Fels, der nicht wankt, erlaubt es uns, wenn wir in Demut und aufmerksam seiner Stimme lauschen, diesem Laufe zu folgen und ihn vorauszusagen, aber es wird von ihm nicht berührt. Ich bin, der ich bin, sagte der Gott der Juden. Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, sagte Unser Herr Jesus Christus. Dies sind die Kernsätze, und das ganze Wissen ist nichts anderes als das staunende Kommentieren dieser beiden ehernen Wahrheiten. Alles, was über sie hinaus gesagt worden ist, wurde vorgebracht von den Propheten, den Evangelisten, den Kirchenvätern und den Doctores, um diese beiden Kernsätze klarer zu machen. Und zuweilen kam auch ein brauchbarer Kommentar von den Heiden, die sie nicht kannten, und ihre Worte sind eingefügt worden in die christliche Tradition. Darüber hinaus aber gibt es nichts mehr zu sagen. Nur das Gesagte wieder und wieder zu überdenken, auszulegen und zu bewahren. Dies und nichts anderes war und ist und muß bleiben die Aufgabe unserer Abtei mit ihrer glänzenden Bibliothek! Im Orient, heißt es, habe einst ein Kalif die Bibliothek einer hochberühmten, stolzen und glorreichen Stadt in Flammen gesteckt und gesagt, während Tausende von Büchern verbrannten, sie könnten getrost und müßten sogar verschwinden, denn entweder wiederholten sie nur, was der Koran lehrt, und dann seien sie unnütz, oder sie widersprächen dem heiligen Buche der Ungläubigen, und dann seien sie schädlich. Die Doctores der römischen Kirche und wir mit ihnen denken nicht so. Alles, was nach Erläuterung und Klärung der Heiligen Schrift klingt, muß aufbewahrt werden, denn es erhöht ihren Ruhm; nichts, was ihr widerspricht, darf vernichtet werden, denn nur wenn es aufbewahrt wird, kann es von denen, die dazu befähigt und durch ihr Amt berufen sind, widerlegt werden in den vom Herrn gewollten Formen und Zeiten. Daher die Verantwortlichkeit unseres Ordens in den Jahrhunderten und daher heute die Bürde unserer Abtei: stolz zu sein auf die Wahrheit, die wir verkünden, demütig und klug im Bewahren der wahrheitswidrigen Worte, ohne uns durch sie zu beflecken … Wohlan, meine Brüder, welches ist nun die Sünde der Hoffart, die einen studierenden Mönch befallen kann? Die eines Mißverstehens seiner Arbeit nicht als ein Bewahren, sondern als ein suchendes Forschen nach einer verborgenen Wahrheit, die den Menschen angeblich noch nicht zuteil geworden ist, als wäre die letzte nicht bereits aufgeklungen in den letzten Worten des letzten Engels, der da spricht im letzten Buche der Heiligen Schrift: ›Ich bezeuge allen, die da hören die Worte der Weissagung in diesem Buche: So jemand etwas hinzufügt, so wird Gott ihm zufügen die Plagen, die in diesem Buche
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