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Der Name der Rose

Der Name der Rose

Titel: Der Name der Rose Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Feuer, sein rechtes Auge ist blutunterlaufen, sein linkes Auge ist katzengrün und hat zwei Pupillen, seine Lider sind weiß, seine Unterlippe ist wulstig, dünn sind die Schenkel, mächtig die Füße, und er hat einen platten, langgezogenen Daumen!«
    »Klingt wie sein Selbstporträt«, flüsterte William grinsend. Eine sehr freche Bemerkung, wirklich, aber ich war ihm dankbar dafür, denn mir wollten gerade die Haare zu Berge stehen. Ich unterdrückte mit Mühe ein Lachen, indem ich die Backen aufblies und die Luft aus den zusammengepreßten Lippen fahren ließ. Das ergab einen Laut, den man gut hören konnte in der Stille nach den letzten Worten des Alten, doch glücklicherweise dachten alle, es hätte wohl jemand husten müssen oder aufgeschluchzt oder wäre erschauernd zusammengefahren, und alle hatten vollstes Verständnis dafür.
    »In diesem Moment«, fuhr Jorge fort, »versinkt alles in Willkür, die Kinder erheben sich gegen die Eltern, die Gattin sinnt Böses gegen den Gatten, der Gatte zieht die Gattin vor Gericht, die Herren sind unmenschlich zu den Knechten, die Knechte sind ungehorsam gegenüber den Herren, es gibt keine Ehrfurcht mehr vor dem Alter, die Halbwüchsigen wollen bestimmen, die Arbeit erscheint allen nur noch als überflüssige Plackerei, überall erheben sich Lobgesänge auf die Freizügigkeit, auf das Laster und auf die entfesselte Genußsucht. Und es folgen in raschen Wellen Schändungen, Ehebrüche, Meineide, Sünden wider die Natur, und Seuchen, und Wahrsagerei und allerlei Zauber, und fliegende Körper erscheinen am Himmel, und falsche Propheten erheben sich unter den guten Christen, falsche Apostel, Verführer, Schwindler, Betrüger, Hexenmeister und Frauenschänder, Geizige, Meineidige und Fälscher, die Hirten verwandeln sich in Wölfe, die Priester lügen, die Mönche begehren die Dinge der Welt, die Armen scharen sich nicht mehr um ihre Führer, die Mächtigen haben kein Erbarmen mehr, und die Gerechten dulden das Unrecht. Alle Städte werden von Erdbeben heimgesucht, Pest geht durchs Land, Sturmwinde reißen die Erde auf, die Felder sind von Giften verseucht, das Meer sondert schwärzliche Säfte ab, neue und nie gesehene Wunder ereignen sich auf dem Mond, die Sterne verlassen ihre gewohnten Bahnen und andere – unbekannte – zerfurchen den Himmel, Schnee fällt im Sommer und trockene Hitze herrscht im Winter … Und das wird die Endzeit sein und das Ende der Zeiten: Am ersten Tage zur dritten Stunde wird sich eine mächtige Stimme erheben am Firmament, im Norden wird eine purpurne Wolke aufziehen, Blitze und Donner werden ihr folgen und blutiger Regen wird niederprasseln. Am zweiten Tage wird sich die Erde aus ihrer Verankerung reißen, und der Rauch eines großen Feuers wird durch die Tore des Himmels ziehen. Am dritten Tage werden die Schlünde der Erde toben und grollen aus den vier Ecken des Kosmos. Die Zinnen des Firmaments werden sich auftun, Rauchsäulen werden die Luft erfüllen und Schwefelgestank wird herrschen bis zur zehnten Stunde. Frühmorgens am vierten Tage wird die Tiefe zerschmelzen und ein donnernd Getöse ausstoßen, und alle Bauten werden zusammenfallen. Am fünften Tage zur sechsten Stunde wird die Leuchtkraft der Sonne erlöschen, und es wird finster sein auf der Welt bis zum Abend, und dann werden auch der Mond und die Sterne ihr Amt niederlegen. Am sechsten Tage zur vierten Stunde wird sich ein Riß auftun am Firmament von Osten bis Westen, so daß die Engel herabschauen können zur Erde durch den Spalt im Himmel, und alle auf Erden werden die Engel sehen, wie sie herniederblicken durch den Spalt. Dann werden die Menschen sich in die Berge flüchten, um sich zu verbergen vor den Blicken der reinen Engel. Am siebenten Tage schließlich wird Christus kommen im Licht seines Vaters. Und dann wird sein das Gericht, die Auslese der Guten und ihr Aufstieg zur ewigen Seligkeit der Leiber und Seelen. Aber nicht darüber habt ihr heute abend zu meditieren, hoffärtige Brüder! Nicht den Sündern wird es vergönnt sein, die Morgenröte des achten Tages zu schauen, wenn sich im Osten eine süße und liebliche Stimme erhebt aus der Mitte des Himmels und jener Engel hervortritt, der da Macht hat über sämtliche anderen heiligen Engel, und wenn alle Engel vordringen werden mit ihm, sitzend auf einem Wolkenwagen, voller Jubel heranbrausend durch die Luft, um zu befreien die Auserwählten, die gläubig geblieben sind bis zuletzt, auf daß sich alle gemeinsam freuen

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