Der Name der Rose
entsteht … Ich weiß diese Dinge, Ubertin, ich habe selber zu jenen Leuten gehört, die meinten, sie könnten die Wahrheit mit glühenden Zangen ans Licht bringen. Doch wisse, die Glut der Wahrheit ist von anderer Flamme! Unter der Folter kann dir Bentivenga die absurdesten Lügengeschichten erzählt haben, denn nicht er sprach in jenem Augenblick, sondern seine Wollust, das Dämonische in seiner Seele.«
»Seine Wollust?«
»Ja, es gibt eine Wollust des Schmerzes, wie es eine Wollust der Anbetung gibt und sogar eine Wollust der Demut. Bedenke, wenn selbst den aufbegehrenden Engeln so wenig genügte, um ihre Inbrunst der Anbetung und der Demut umschlagen zu lassen in eine Inbrunst der Hoffart und der Rebellion gegen Gott, was soll man dann von den schwachen Menschen sagen? Dieser Gedanke war es, nun weißt du's, der mir im Verlauf meiner Inquisitionen kam. Und genau darum verzichtete ich auf diese Tätigkeit. Mir schwand der Mut, die Schwächen der Übeltäter zu untersuchen, als ich entdeckte, daß sie auch die Schwächen der Heiligen sind.«
Den letzten Worten meines Herrn und Meisters hatte Ubertin zugehört, als verstünde er immer weniger, wovon die Rede war. Am Ausdruck seines Gesichtes, das zunehmend Mitleid bekundete, sah ich, daß er William für das Opfer heftiger Schuldgefühle hielt, die er ihm freilich verzieh, weil er ihn sehr liebte. So unterbrach er ihn und sagte enttäuscht: »Wenn du solche Gefühle hattest, tatest du sicher gut daran, dein schweres Amt niederzulegen. Mir aber fehlte damals deine Hilfe, gemeinsam hätten wir jene üble Bande zerschlagen können. Statt dessen wurde ich, wie du weißt, dann selber der Ketzerei beschuldigt. Ach William, auch du warst also zu schwach im Kampfe gegen das Übel! Das Übel, William – wird dieser Fluch denn niemals enden, diese Finsternis, dieser Morast, der uns hindert, zur reinen Quelle vorzudringen?« Er trat noch einen Schritt näher an William heran, als hätte er Angst, daß ihn jemand hörte: »Auch hier geht es um, auch hier in diesen geweihten Mauern! Weißt du es?«
»Ich weiß es, der Abt hat es mir gesagt, er hat mich sogar gebeten, ihm bei der Aufklärung behilflich zu sein.«
»Dann suche, forsche, spähe mit Luchsaugen in zwei Richtungen: Wollust und Hoffart …«
»Wollust?«
»Ja, Wollust! In diesem Jungen, der nun tot ist, war etwas … Weibisches und also Teuflisches. Er hatte die Augen eines Mädchens, das Verkehr mit dem Inkubus sucht … Aber ich sage auch Hoffart: die Hoffart des Geistes in diesem Kloster, das sich so sehr dem Stolz des Wortes und der Illusion des Wissens hingibt …»
»Wenn du etwas weißt, dann hilf mir!«
»Ich weiß nichts. Es gibt nichts, was ich wissen könnte. Aber manche Dinge fühlt man mit dem Herzen. Laß dein Herz sprechen, William, befrage stets die Gesichter, höre nicht auf die Zungen … Doch was reden wir hier von so finsteren Dingen und machen unserem jungen Freund Angst!« Er blickte mich an mit seinen hellblauen Augen und strich mir mit seinen langen weißen Fingern sanft über die Wange, so daß ich unwillkürlich zurückweichen wollte; doch ich beherrschte mich, denn es hätte ihn verletzt, und seine Absicht war rein.
»Erzähl mir lieber von dir«, wandte er sich erneut an William. »Was hast du getan in all den Jahren? Wie lange ist es her …«
»Achtzehn Jahre«, antwortete William. »Ich bin in meine Heimat zurückgekehrt und habe in Oxford meine Studien fortgesetzt. Ich habe die Natur studiert.«
»Die Natur ist gut, denn sie ist Gottes Schöpfung«, sagte Ubertin.
»Und Gott muß gut sein, wenn er die Natur geschaffen hat«, lächelte William. »Ich habe studiert, ich habe viele kluge Freunde getroffen. Dann habe ich Marsilius kennengelernt, mich interessierten seine Ideen über das Reich und das Volk und über ein neues Gesetz für die irdische Herrschaft, und so geriet ich in jene Gruppe unserer Mitbrüder, die den Kaiser berät. Aber das weißt du ja, ich habe es dir geschrieben. Und als ich dann eines Tages in Bobbio erfuhr, daß du hier Unterschlupf gefunden hast, jauchzte mein Herz, denn ich hatte dich für verschollen gehalten. Nun, da du hier bist, kannst du uns sehr behilflich sein, wenn Michael in ein paar Tagen eintrifft. Es wird einen harten Zusammenstoß geben.«
»Ich habe kaum mehr zu sagen als das, was ich bereits vor fünf Jahren in Avignon sagte. Wer wird mit Michael kommen?«
»Einige Brüder, die beim Kapitel in Perugia waren. Arnold von Aquitanien,
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