Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
Vom Netzwerk:
oder zwei Verse zu komponieren. Nun aber widmete ich dem Spiel meine ganze Aufmerksamkeit. Einige dieser Lieder habe ich bis heute behalten.
    Anschließend begann ich … ja, wie soll ich das beschreiben?
    Ich begann etwas anderes als Lieder zu spielen. Wenn der Sonnenschein das Gras wärmt und eine Brise einen kühlt, ist das ein bestimmtes Gefühl. Ich spielte so lange, bis ich dieses Gefühl auszudrücken vermochte. Ich spielte, bis es klang wie warmes Gras und eine kühle Brise.
    Ich spielte nur für mich allein, aber ich war mir ein strenges Publikum. Ich weiß noch, dass ich fast drei Tage brauchte, bis ich »Der Wind dreht ein Blatt« zu spielen vermochte.
    Nach zwei Monaten vermochte ich die Dinge mit eben der Leichtigkeit zu spielen, mit der ich sie sah oder empfand: »Die Sonne geht hinter Wolken unter«, »Ein Vogel an der Tränke«, »Tau auf dem Farngestrüpp«.
    Im Laufe des dritten Monats hörte ich irgendwann auf, mich in der Außenwelt nach Anregungen umzusehen, und richtete mein Augenmerk auf mein Inneres. Ich lernte zu spielen: »Wagenfahrt mit Ben«, »Singen mit Vater am Feuer«, »Shandi tanzen sehen«, »Blätter mahlen, wenn draußen die Sonne scheint«, »Mutter lächelt« …
    Das zu spielen tat natürlich weh, aber es war ein Schmerz wie bei zarten Fingern auf Lautensaiten. Es blutete ein wenig, und ich hoffte, dass sich bald Schwielen bilden würden.

    Als der Sommer zu Ende ging, riss mir eine Saite und war nicht mehr zu reparieren. Ich verbrachte den Großteil des Tages in Stumpfheit und wusste nicht, was ich tun sollte. Mein Geist war immer noch wie betäubt. Dann besann ich mich mit nur einem Fünkchen meines eigentlichen Verstandes auf dieses Problem. Nachdem ich mir klargemacht hatte, dass ich eine neue Saite weder herstellen noch erwerben konnte, setzte ich mich wieder hin und lernte, auf nur sechs Saiten zu spielen.
    Eine Spanne später war ich auf sechs Saiten schon fast so gut wie zuvor auf sieben. Und drei Spannen später versuchte ich gerade »Warten, während es regnet« zu spielen, als mir eine zweite Saite riss.
    Diesmal ließ ich keine Zeit verstreichen, entfernte die nutzlos gewordenen Reste und fing von vorne an.
    Ich war gerade mitten im Lied »Ernte«, als mir die dritte Saite riss. Nachdem ich fast einen halben Tag lang versucht hatte, ohne sie auszukommen, wurde mir klar, dass es mit drei gerissenen Saiten nicht mehr ging. Und so packte ich also mein stumpfes Taschenmesser, einen halben Knäuel Schnur und Bens Buch in einen zerlumpten Segeltuchsack, schulterte die Laute meines Vaters und machte mich auf den Weg.
    Ich versuchte, »Schneefall im Spätherbst« und »Schwielige Finger und eine viersaitige Laute« zu summen, aber es war nicht das Gleiche, wie es zu spielen.

    Ich stand vor der Aufgabe, eine Straße zu finden und ihr zu einer Stadt zu folgen und hatte keine Ahnung, wie weit ich von beidem entfernt war, in welche Richtung ich gehen sollte, oder wie diese Stadt wohl hieß. Ich wusste, dass ich irgendwo im südlichen Commonwealth war, aber der genaue Ort war mir verborgen, war vermengt mit anderen Erinnerungen, an die ich nicht rühren wollte.
    Das Wetter half mir, mich zu entscheiden. Die Herbstkühle wich schon den Winterfrösten. Ich wusste, dass es im Süden wärmer war. Da mir nichts Besseres einfiel, ließ ich mir die Sonne auf die linke Schulter scheinen und versuchte möglichst schnell voranzukommen.
    Die nun folgende Spanne war eine einzige Qual. Das bisschen Proviant, das ich mitgenommen hatte, war bald aufgebraucht, und wenn ich Hunger hatte, musste ich die Wanderung unterbrechen und auf Nahrungssuche gehen. An manchen Tagen fand ich kein Wasser, und wenn ich doch welches fand, hatte ich nichts, worin ich es hätte mitnehmen können. Der schmale Pfad mündete in einen breiteren Weg, der wiederum zu einer noch breiteren Straße führte. Ich scheuerte mir die Füße in den Schuhen wund und bekam Blasen. Und manche Nächte waren bitterkalt.
    Es gab dort Gasthäuser, aber ich machte einen großen Bogen um sie und bediente mich nur gelegentlich an den Wassertrögen für die Pferde. Es gab dort auch einige kleinere Ortschaften, aber ich suchte eine größere Stadt. Bauern haben keinen Bedarf an Lautensaiten.
    Wenn ich hörte, dass sich ein Gespann oder ein Pferd näherte, humpelte ich in den ersten Tagen unwillkürlich beiseite, um mich am Straßenrand zu verstecken. Seit jenem Abend, an dem meine Familie ermordet worden war, hatte ich mit keiner

Weitere Kostenlose Bücher