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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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machen.«

    Kvothe schloss die Haustür hinter sich. Er sah sich um und schien erstaunt, dass es ein Herbstnachmittag war, und nicht der Frühlingsabend seiner Geschichte. Er nahm eine Schubkarre und schob sie in den Wald hinter dem Wirtshaus, und seine Schuhe schlurften durchs Laub.
    Ganz in der Nähe befand sich der Holzvorrat für den Winter. Klafter um Klafter Eichen- und Eschenholz waren zwischen Baumstämmen zu windschiefen Mauern aufgeschichtet. Kvothe warf zwei Scheite in die Karre, und es klang wie gedämpfter Trommelschlag. Weitere Scheite folgten. Seine Bewegungen waren präzise, seine Miene ausdruckslos, sein Blick in weite Ferne gerichtet.
    Doch während er weiter die Karre belud, wurde er immer langsamer, wie eine Maschine, die an Schwung verliert. Schließlich hielt er inne und stand eine Minute lang wie versteinert da. Erst dann verlor er die Beherrschung. Und obwohl ihn dort niemand sehen konnte, verbarg er das Gesicht in den Händen und weinte leise, sein ganzer Körper von stummem Schluchzen geschüttelt.

Kapitel 18
    Straßen, die in Sicherheit führen

    D ie großartigste Fähigkeit des menschlichen Geistes ist vielleicht die, mit Schmerzen fertig zu werden. Die klassische Philosophie spricht hier von den vier Pforten des Geistes, die man durchschreiten kann.
    Die erste Pforte ist die des Schlafs. Der Schlaf bietet uns Zuflucht vor der Welt und all ihrem Leid. Im Schlaf vergeht die Zeit, und das verschafft uns Abstand zu den Dingen, die uns Schmerz zugefügt haben. Wenn Menschen Verletzungen erleiden, werden sie oft bewusstlos, und jemand, der eine furchtbare Nachricht erhält, fällt vielleicht in Ohnmacht. Der Geist schützt sich also vor dem Schmerz, indem er diese erste Pforte durchschreitet.
    Die zweite Pforte ist die des Vergessens. Manche Wunden sind zu tief, um wieder verheilen zu können, oder zumindest zu tief für eine schnelle Heilung. Hinzu kommt, dass manche Erinnerungen ausschließlich schmerzlich sind und sich da nichts heilen lässt. Das Sprichwort »Die Zeit heilt alle Wunden« entspricht nicht der Wahrheit. Die Zeit heilt die meisten Wunden. Die übrigen sind hinter dieser Pforte verborgen.
    Die dritte Pforte ist die des Wahnsinns. Manchmal erhält der Geist einen so verheerenden Schlag, dass er sich in den Wahnsinn flüchtet. Das ist nützlicher, als es zunächst scheint. Manchmal besteht die Wirklichkeit nur noch aus Schmerz, und um diesem Schmerz zu entrinnen, muss der Geist die Wirklichkeit hinter sich lassen.
    Die vierte und letzte Pforte ist die des Todes. Der letzte Ausweg. Wenn wir erst einmal tot wären, könne uns nichts mehr etwas anhaben – heißt es jedenfalls.
    Nach dem Mord an meiner Familie ging ich tief in den Wald hinein und schlief. Meinen Körper verlangte es danach, und mein Geist nutzte die erste Pforte, um den Schmerz zu lindern. Die Wunde wurde erst einmal abgedeckt, bis die Zeit kommen würde, da sie heilen konnte. Ein Gutteil meines Geistes stellte aus Gründen der Selbstverteidigung die Arbeit ein – legte sich, wenn man so will, schlafen.
    Und während mein Geist schlief, wurden viele schmerzliche Aspekte des vergangenen Tages durch die zweite Pforte geleitet. Nicht jedoch alle. Ich vergaß nicht, was geschehen war, aber die Erinnerung wurde getrübt, so als sähe ich sie durch einen dichten Schleier. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich die Erinnerung an die Gesichter der Toten und an den Mann mit den schwarzen Augen wieder heraufbeschwören können. Doch ich wollte mich nicht daran erinnern. Ich schob diese Gedanken beiseite und ließ sie in einem nur selten genutzten Winkel meines Geistes verblassen.
    Und ich träumte – doch nicht von Blut, glasig blickenden Augen und dem Gestank brennender Haare, sondern von angenehmen Dingen. Und so wurde die Wunde ganz allmählich betäubt …

    In meinem Traum ging ich mit Laclith, dem Holzfäller, der, als ich noch kleiner war, eine Zeitlang mit unserer Truppe gereist war, durch den Wald. Er bewegte sich fast lautlos durchs Unterholz, wohingegen ich mehr Lärm machte als ein verwundeter Ochse, der einen umgestürzten Karren hinter sich herzieht.
    Nach langem, sehr angenehmem Schweigen blieb ich stehen, um mir eine Pflanze anzusehen. Laclith stellte sich hinter mich. »Bartsalbei«, sagte er. »Das erkennt man an den Rändern.« Er strich sacht mit einem Finger einen Blattrand entlang. Es sah tatsächlich wie ein Bart aus. Ich nickte.
    »Das ist eine Weide. Wenn man die Borke kaut, wirkt sie

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