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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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fernes Donnergrollen. Stimmen feilschten und stritten. Irgendwo weinte ein Kind. Wir fuhren eine Weile hin und her, bis Seth vor einem Buchladen eine freie Stelle entdeckte.
    Er hielt, und ich sprang ab und half den beiden, die prallen Säcke am Straßenrand aufzuschichten.
    Nach einer halben Stunde war das geschafft, und wir verschnauften. Seth sah mich an, schirmte dabei die Augen mit einer Hand gegen den Sonnenschein ab. »Was hast du denn heute noch vor, Junge?«
    »Ich brauche neue Saiten für meine Laute«, sagte ich. Erst da merkte ich, dass ich gar nicht wusste, wo die Laute meines Vaters war. Ich sah mich hektisch um. Sie war nicht mehr im Wagen, wo ich sie zurückgelassen hatte, und sie lehnte auch weder an der Mauer noch an dem Kürbishaufen. Mir krampfte sich der Magen zusammen, doch dann entdeckte ich sie unter ein paar leeren Säcken. Ich hob sie mit zitternden Händen auf.
    Der alte Bauer hielt mir lächelnd zwei der Kürbisse hin, die wir abgeladen hatten. »Wie würde es deiner Mutter gefallen, wenn du ein paar der schmackhaftesten Gartenkürbisse, die es diesseits des Elds zu kaufen gibt, mit heimbringen würdest?«
    »Nein, das geht nicht«, stammelte ich und schob eine Erinnerung an wunde, im Erdreich scharrende Finger und an den Gestank von brennendem Haar beiseite. »Ich meine – ihr habt doch schon …« Ich verstummte, klammerte mich an meine Laute und wich ein paar Schritte zurück.
    Nun sah er mich genauer an, so als sähe er mich zum ersten Mal. Mit einem Mal verlegen, stellte ich mir vor, wie ich aussehen musste: abgerissen und halb verhungert. Ich hielt mich an der Laute fest und wich weiter zurück. Der Bauer ließ die Hände sinken, und sein Lächeln schwand. »Ach, Junge«, sagte er leise.
    Er legte die Kürbisse wieder hin und sagte dann freundlich und ernsthaft: »Jake und ich bleiben ungefähr bis Sonnenuntergang hier. Wenn du bis dahin gefunden hast, was du suchst, würden wir dich gern zu uns auf den Hof einladen. Meine bessere Hälfte und ich könnten an manchen Tagen gut noch einen weiteren Gehilfen brauchen. Du wärst herzlich willkommen. Stimmt’s nicht, Jake?«
    Jake sah mich ebenfalls an, und seiner offenen Miene war das Mitleid anzusehen. »Klar, Pa. Hat sie grade noch gesagt, bevor wir losgefahren sind.«
    Der alte Bauer sah mich weiter mit ernstem Blick an. »Das ist der Seaward Square«, sagte er und wies vor seine Füße. »Wir bleiben hier, bis es dunkel wird, vielleicht auch noch ein bisschen länger. Wenn du mitfahren willst, kommst du einfach wieder.« Nun blickte er besorgt. »Hast du gehört? Du kannst mit uns zurückfahren.«
    Ich wich immer noch Schritt um Schritt zurück, ohne zu wissen, warum. Ich wusste nur, wenn ich mit ihnen ging, würde ich alles Mögliche erklären, würde ich mich erinnern müssen. Und alles war besser, als diese Pforte zu öffnen …
    »Nein. Nein, danke«, stammelte ich. »Ihr habt schon genug für mich getan. Ich komme schon zurecht.« Von hinten rempelte mich ein Mann an, der eine Lederschürze trug. Erschrocken machte ich kehrt und lief davon.
    Ich hörte, wie einer der beiden mir etwas nachrief, aber es ging im Getöse unter.

    Die Stadt Tarbean ist so groß, dass man sie nicht an einem Tag zu Fuß durchqueren kann – nicht einmal, wenn man es schafft, sich in dem Gewirr der gewundenen Straßen und Sackgassen nicht zu verlaufen und nicht anquatschen zu lassen.
    Ja, diese Stadt war tatsächlich zu groß. Sie war riesig, gewaltig. Meere von Menschenmassen, Wälder von Gebäuden, Straßen breit wie Ströme. Es stank dort nach Pisse und Schweiß, nach Kohlenrauch und Teer. Wenn ich bei Verstand gewesen wäre, hätte ich mich sofort aus dem Staub gemacht.
    Es kam, wie es kommen musste, und ich verlief mich. Ich bog zu früh oder zu spät ab und versuchte es wettzumachen, indem ich eine Quergasse nahm, die einer Schlucht zwischen zwei hohen Bauten glich. Sie wand sich wie ein Wadi, dessen Fluss sich ein saubereres Bett gesucht hatte. An den Mauern emporgespülter Unrat hing in den Lücken zwischen den Gebäuden und den Hauseingängen. Nachdem ich um einige Ecken gebogen war, stieg mir der widerliche Gestank von etwas Verwesendem in die Nase.
    Hinter der nächsten Ecke torkelte ich von grellem Schmerz geblendet an eine Mauer. Grobe Hände packten meine Arme.
    Als ich die Augen aufschlug, sah ich einen älteren Jungen vor mir. Er war doppelt so groß wie ich, hatte dunkles Haar und einen wilden Blick. Der Dreck auf seinem Gesicht

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