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Der Name Des Windes

Der Name Des Windes

Titel: Der Name Des Windes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Rothfuss
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Menschenseele mehr gesprochen. Ich ähnelte eher einem wilden Tier als einem zwölfjährigen Jungen. Doch schließlich wurde die Straße breiter und immer belebter, und als ich feststellte, dass ich mehr Zeit in Verstecken als auf der Wanderschaft verbrachte, trat ich dem Verkehr schließlich tapfer entgegen und war erleichtert, als man mich in der Regel gar nicht beachtete.

    Eines Morgens, ich war noch keine Stunde unterwegs, hörte ich hinter mir ein Fuhrwerk. Die Straße war so breit, dass zwei Gespanne nebeneinander herfahren konnten, aber dennoch wich ich auf das Gras am Straßenrand aus.
    »He, Junge!«, rief hinter mir eine rauhe Männerstimme. Ich sah mich nicht um. »Hallo, Junge!«
    Ich ging weiter von der Straße fort, ohne mich umzusehen, den Blick starr zu Boden gerichtet.
    Der Wagen hielt. Die Stimme rief lauter als zuvor: »Junge! Junge!«
    Ich hob den Blick und sah einen alten Mann mit wettergegerbtem Gesicht, der gegen den Sonnenschein anblinzelte. Er war irgendwas zwischen vierzig und siebzig. Neben ihm auf dem Kutschbock saß ein vierschrötiger junger Mann. Allem Anschein nach waren sie Vater und Sohn.
    »Bist du taub, Junge?«, fragte der alte Mann.
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Bist du blöd?«
    Ich schüttelte erneut den Kopf. »Nein.« Es war ein seltsames Gefühl, mit jemandem zu reden. Meine Stimme klang nach der langen Einsamkeit ganz rauh und ungewohnt.
    Er sah mich blinzelnd an. »Willst du in die Stadt?«
    Ich nickte, wollte nicht schon wieder reden.
    »Dann steig auf.« Er deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich. »Einen Spack wie dich zieht unser Sam mit links.« Er tätschelte sein Maultier.
    Einzuwilligen war einfacher als wegzulaufen. Und die Blasen an meinen Füßen brannten von dem Schweiß in meinen Schuhen. Ich stieg hinten in den offenen Wagen. Die Ladefläche war zu drei Vierteln mit großen Säcken gefüllt. Ein paar Gartenkürbisse aus einem davon kullerten über den Boden.
    Der Alte griff in die Zügel, und das Maultier setzte sich widerwillig in Bewegung. Ich stopfte die herausgefallenen Kürbisse in den Sack zurück. Der alte Bauer sah sich lächelnd zu mir um. »Danke, Junge. Ich bin Seth, und das ist Jake. Setz dich lieber, sonst fliegst du uns beim nächsten Schlagloch vom Wagen.« Ich ließ mich auf einem der Säcke nieder. Ich war angespannt und wußte nicht, was ich erwarten sollte.
    Der alte Bauer gab seinem Sohn die Zügel und holte aus einem Beutel einen großen, braunen Brotlaib hervor. Er riss ein großes Stück davon ab, schmierte ein ordentliches Stück Butter darauf und reichte es mir.
    Bei dieser beiläufigen freundlichen Geste zog es mir das Herz zusammen. Ich hatte seit einem halben Jahr kein Brot mehr gegessen. Es war weich, und die Butter schmeckte süß. Ich hob mir etwas davon für später auf und stopfte es in meinen Sack.
    Nach längerem Schweigen sah sich der Alte wieder zu mir um. »Kannst du spielen?« Er wies auf den Lautenkasten, an dem ich mich festhielt.
    »Die ist kaputt.«
    »Oh«, sagte er enttäuscht, und ich dachte schon, er würde mich jetzt absteigen lassen. Doch statt dessen lächelte er und nickte zu seinem Nebenmann hinüber. »Dann übernehmen wir halt das Musikprogramm.«
    Er stimmte Tinker Tanner an, ein Trinklied, älter als Gott. Sein Sohn stimmte ein, und ihre rauhen Stimmen fügten sich zu einer schlichten Harmonie, die mir die Kehle zuschnürte, denn sie erinnerte mich an andere Wagen, an andere Lieder, an ein halb schon vergessenes Zuhause.

Kapitel 20
    Blutige Hände zu schmerzenden Fäusten

    G egen Mittag bog der Wagen auf eine breitere, gepflasterte Straße. Erst sah man nur eine Hand voll Reisender und ein oder zwei Gespanne, aber nach dem langen Alleinsein kamen sie mir wie eine Menschenmenge vor.
    Wir fuhren in die Stadt, und flache Bauten wichen größeren Geschäften und Gasthöfen. Enge Gassen voller fahrender Händler lösten die baumbestandenen Gärten ab. Den Strom der Straße staute das Treibgut aus Hunderten Karren und Passanten, Dutzenden Fuhrwerken und Reitern.
    Man hörte Hufgeklapper, Menschen rufen, es roch nach Bier und Schweiß, nach Unrat und Teer. Ich fragte mich, welche Stadt es wohl war, und ob ich hier früher schon einmal gewesen sei – früher …
    Ich biss die Zähne zusammen und zwang mich, an etwas anderes zu denken.
    »Wir sind gleich da.« Seths Stimme übertönte das Getöse. Schließlich führte die Straße auf einen Marktplatz. Die Wagenräder auf dem Kopfsteinpflaster klangen wie

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