Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
altmodischer Wanderzirkus mit allen Attraktionen, die man erwarten konnte: der Feuer schluckende starke Mann, die dicke Frau mit Bart (der, wie sich später herausstellte, nicht echt war) und ein Fakir (in Wahrheit ein hellhäutiger Mann im Kostüm eines indischen Meisters). Da wir selbst Hobbymagier waren, brannten wir darauf, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, aber die Schausteller beobachteten uns mit Adleraugen. Der Geruch von Zuckerwatte, Popcorn und Erdnüssen war kaum zu ertragen, so hungrig waren wir. Da entdeckten wir einen Verkaufsstand, der gerade unbeaufsichtigt war. Von bunten Lichtern angestrahlt, reihten sich kandierte rote Äpfel aneinander und luden dazu ein zuzugreifen. Blitzschnell schnappten wir uns jeder einen Apfel und rannten in eine dunkle Ecke hinter den Tierkäfigen. Was für ein Glück, dachten wir. Kaum hatten wir herzhaft in die Äpfel gebissen, wurden sie uns auch schon wieder weggenommen. Erschrocken blickten wir in das zerfurchte Gesicht eines alten Schaustellers, der uns mit einem hämischen Grinsen ansah. Ihm fehlten fast alle Zähne, was sein Grinsen noch viel gruseliger machte. »Wie nett, dass ihr beim Tierfüttern helfen wollt«, sagte er und warf die Äpfel in den Tigerkäfig. »Nein.« Er lachte, als wir mit großen Augen zusahen, wie der Tiger unsere Äpfel mit der Tatze auseinanderrupfte wie die Katze das Garnknäuel. »Sie mag keine Äpfel. Sie soll nur euren Geruch aufnehmen. Den Geruch von Menschenfleisch.« Während er das sagte, packte er uns am Kragen, schnüffelte an uns und tat so, als wären wir seine nächste Mahlzeit. Dann zerrte er uns zur Käfigtür. Wir strampelten und schrien, aber es nützte nichts, er hatte uns fest im Griff. Inzwischen weinten wir und flehten auf Italienisch um unser Leben. Wir glaubten felsenfest, unser Ende sei gekommen. »Leb wohl«, sagte ich zu Luciano.
* Zirkusleute haben ihre eigene Sprache. Ich habe einige Begriffe im Appendix aufgelistet – nur für den Fall, dass du vorhast, wegzulaufen und bei einem Zirkus anzuheuern.
»Nein, sag lieber arrivederci«, erwiderte er und blickte zum Himmel hinauf. »Wir werden uns da oben wiedersehen.« »Ja, wir bleiben immer zusammen«, sagte ich und bemühte mich, ebenso tapfer zu sein wie er. Mit dem Finger berührte ich sein Mondsichel-Muttermal und schloss die Augen. »Lass die beiden los, Sammy!« Der Zirkusdirektor kam auf uns zu. »Keine Angst, Jungs. Die alte Tigerin hat nicht mehr Zähne als Sammy. Sie könnte keiner Fliege was zuleide tun.« Augenzwinkernd erklärte er, dass wir nach dem Klauen niemals wegrennen dürften. »Wenn man stiehlt, muss man ganz langsam weggehen«, riet er uns. »Sonst erregt man unnötig Aufmerksamkeit.« Zur Strafe für unseren armseligen Raubversuch befahl der Direktor uns, Sammy beim Ausmisten der Tierkäfige zu helfen. Wir waren so froh, mit dem Leben davongekommen zu sein, dass wir uns mächtig anstrengten, sodass selbst Sammy zufrieden mit uns war. Am nächsten Morgen saßen wir erschöpft, aber glücklich vor dem Wohnwagen des Direktors bei seiner dreijährigen Tochter, während drinnen seine Frau das Frühstück bereitete. Um uns die Zeit zu vertreiben, zogen wir unsere Spielkarten hervor und übten einige Tricks – sehr zum Vergnügen des kleinen Mädchens. Ohne dass wir es wussten, beobachtete uns der Direktor aus dem Wohnwagen heraus. Als wir fertig waren, applaudierte er. »Lucy erkennt einen guten Zaubertrick, wenn sie einen vor sich hat«, sagte er und deutete auf seine Tochter. »Alle unsere Zirkusnummern führen wir zuerst ihr vor.«
Nachdem Luciano und ich Schinken und Pfannkuchen bis auf die letzten Krümel aufgegessen hatten (warum schmeckt das Essen im Freien eigentlich besser als drinnen?), schickte der Direktor uns weg, damit wir beim Zeltabbau halfen. Kein einziges Mal fragte er, woher wir kamen oder wohin wir wollten. Er nahm einfach an, dass wir uns dem Zirkus anschließen und mitreisen würden – und das taten wir auch. Wenn du zu den Glücklichen (oder den Unglücklichen?) gehörst, die für das Zirkusleben bestimmt sind, dann ist das Wanderleben für dich genauso natürlich wie der Vogelzug für die Gans oder der Winterschlaf für den Bären.
Nachdem Kass diesen Satz gelesen hatte, klappte sie das Notizbuch zu. Sie musste aufhören, allerdings nicht, weil die Geschichte schon zu Ende war, sondern weil die Schulglocke läutete. Genau genommen hatte sie schon an der Stelle geläutet, als Pietro und Luciano an die
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