Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
Bruder weggegangen war, hatte die Magie ihren Zauber für mich verloren. Aber von irgendetwas musste ich ja leben. Also gab ich Vorstellungen in Parks und an Straßenecken – und in Zügen, falls sich mir irgendwie eine Mitfahrgelegenheit bot. Später trat ich in Nachtklubs und Theatern auf. Ich durfte, wenn ich das so sagen darf, in meinem Metier große Erfolge feiern. Allerdings blieb ich meist für mich allein – kein Freund könnte je den Platz meines Bruders einnehmen – und heute bin ich ein alter Einsiedler. Die Hoffnung, Luciano eines Tages wiederzufinden, habe ich nie aufgegeben. Gegen jede Vernunft sagt mir mein Gefühl, dass er noch am Leben ist. Eines Tages, es ist nur wenige Jahre her, blätterte ich in einem wissenschaftlichen Magazin – schon immer hat mich die Welt der Natur stärker fasziniert als die Welt der Menschen – und stieß auf einen Artikel über Synästhesie. Insbesondere ein Beitrag über ein Wunderkind aus den sechziger Jahren weckte mein Interesse. Es handelte sich um ein Mädchen, eine überaus talentierte Geigerin, die internationalen Ruhm erntete. Sie behauptete, beim Musizieren Farben vor sich zu sehen – eine weithin bekannte Form der Synästhesie –, und im Alter von sieben Jahren komponierte sie ein herrliches Musikstück, dem sie den Titel Regenbogensonate gab. Mit neun Jahren wurde sie entführt. Seither war sie wie vom Erdboden verschluckt. Ein weiteres Kind mit Synästhesie, das entführt worden war? War es nur ein Zufall? Vielleicht. Aber hier hatte ich den ersten Hinweis seit siebzig Jahren. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als dem nachzugehen. Seltsamerweise waren sämtliche Zeitungsartikel über die junge Geigerin in den Büchereien verschwunden. In einem Secondhand-Buchladen in Alaska stieß ich schließlich auf einen alten Zeitschriftenbeitrag, in dem die Umstände der Entführung geschildert wurden. Ein Platzanweiser des Konzerthauses, in dem sie ihren letzten Auftritt hatte, wollte gesehen haben, wie sie unmittelbar vor ihrem Verschwinden mit einer Frau sprach. Der Mann sagte aus, die Frau sei eine blendende Erscheinung gewesen mit ihrem blonden Haar und den goldenen –
»Neiiin! Das gibt’s doch gar nicht!« Enttäuscht blätterte Kass das Notizbuch vor und zurück und suchte nach weiteren verborgenen Seiten. »Ist das alles?«, fragte Max-Ernest. »Ja, hier bricht der Text ab.« »Aber wir wissen noch nichts über das schreckliche Geheimnis.«
»Natürlich nicht. Ich nehme an, er hat noch mehr geschrieben, die Seiten aber wieder rausgerissen. Sieh mal...« Kass klappte das Notizbuch weit auf und deutete auf feine Papierfasern an der Innenseite des Buchrückens. »Könnte sein, dass er schnell fliehen musste und nicht das ganze Notizbuch mitnehmen konnte, sondern nur ein paar Seiten, die in seine Jackentasche passten.«
»Du meinst, er hat ein verdächtiges Geräusch gehört oder das Feuer gerochen?«, überlegte Max-Ernest. »Vielleicht wurde er umgebracht und sein Mörder hat die rausgerissenen Seiten an sich genommen. Oder –«
»Du hast es kapiert«, unterbrach Kass in grimmig. »Und dir ist hoffentlich auch klar, wer diese Frau ist, oder?«
»Wer?«, fragte Max-Ernest.
»Die Goldene Dame. Das liegt doch auf der Hand. Die Goldene Dame ist Madame Mauvais.«
Max-Ernest schüttelte den Kopf. »Nein, ist sie nicht. Sie kann es gar nicht sein.«
»Glaub mir, sie ist es. Hör zu...« Kass blätterte in den Seiten. »Hier. Sie hatte eine winzig schmale Taille und war mit Schmuck behängt. Und sie trug Handschuhe.«
»Ja, aber es ist nur eine Ähnlichkeit«, widersprach Max-Ernest. »Sie ist nicht die Goldene Dame. Das ist völlig ausgeschlossen.«
»Wieso denn nicht? Nenn mir einen einzigen Grund dafür.«
»Okay. Hier ist einer. Die Dame, die zu den Brüdern in den Zirkus kam...Das ist alles schon eine Ewigkeit her. Wenn sie wirklich Madame Mauvais wäre, müsste sie ja mindestens hundert Jahre alt sein. Immer vorausgesetzt, sie ist noch am Leben.«
Kass biss sich auf die Lippe. Dagegen ließ sich schwer etwas einwenden. Madame Mauvais sah nicht so aus, als wäre sie schon uralt.
»Vielleicht ist sie ein Vampir, dann könnte es mit dem Alter hinkommen«, überlegte Max-Ernest. »Ist aber nicht sehr wahrscheinlich. An echte Vampire glaubt keiner. Nur Vampirfledermäuse, die gibt es wirklich. Und Graf Dracula – den gab es auch. Aber er war kein Vampir. Er war nur ein fieser alter Kerl.
Das zumindest wird von ihm behauptet. Mit Gewissheit
Weitere Kostenlose Bücher