Der Name dieses Buches ist ein Geheimnis
Tönen und Farben, Gerüchen und Geschmack. Beim Zeichnen versuchte er, alle diese verschiedenen Wahrnehmungen einzufangen. Aber wenn die anderen Kinder seine Bilder betrachteten, sahen sie nur ein Durcheinander. Daher nahm Benjamin an, dass er nicht viel besser im Zeichnen war als in Mathe oder Physik oder beim Fußball.
Irgendwann besuchte er außerhalb der Schulzeit einen Kurs, der sich »Kunst ohne Grenzen« nannte. Dort sah er Bilder von Felsen, die jemand in einen See versenkt hatte und die eine Spirale bildeten. Die Gesteinsbrocken waren ein Beispiel für etwas, das sich Naturkunst nannte. Er hörte außerdem von Leuten, die sich auf eine Bühne stellten und alberne Sachen machten. Man nannte sie Performance-Künstler. Und er hörte von Leuten, die lange Listen mit künstlerischen Ideen schrieben, die nie verwirklicht wurden. Die nannte man Konzeptionskünstler.
Wenn das alles Kunst war, durfte es nicht allzu schwer sein, ein Künstler zu werden.
In Kunst ohne Grenzen mussten die Teilnehmer beispielsweise Sprachen erfinden oder Alternativen zur Schwerkraft. Wenn sie zeichnen oder malen oder modellieren oder irgendwelche anderen normalen künstlerischen Arbeiten machen wollten, wurden sie vom Lehrer – der lange Dreadlocks hatte, die beim Sprechen auf und ab wippten und jedem Wort, das er sagte, ein besonderes Gewicht verliehen – ermuntert, sich an abstrakte Kunst zu wagen, statt nur einfach die Welt, die sie sahen, kopieren zu wollen. »Für Kopien sind Xerox-Maschinen da«, sagte er, was lustig war, denn er hatte ihnen kurz vorher Xerox-Kunst gezeigt, die absolut nichts mit Kopien zu tun hatte.
Benjamin wandte ein, dass seine Bilder nicht abstrakt wären, sondern ein Abbild der Welt, wie er sie sah. Aber der Lehrer meinte nur, das laufe aufs Gleiche hinaus und er solle sich darüber keine Gedanken machen. Danach malte Benjamin alles, was er sah, besonders Musik, die er am allerliebsten betrachtete.
Ohne dass Benjamin es wusste, reichte der Lehrer seine Arbeiten bei dem Wettbewerb Junge Leonardos ein. Niemand wollte es glauben, als Benjamin den ersten Preis gewann, am allerwenigsten er selbst. Nicht nur dass er bis dahin noch nie einen Preis gewonnen hatte, er hatte auch nie bei einem Wettbewerb mitgemacht.
Zu gewinnen machte Benjamin Spaß. Ein Gewinner zu sein, war jedoch nicht ganz so einfach.
Mit einem Mal wollten alle mit ihm reden. Und reden war etwas, das Benjamin nicht leichtfiel. Wenn er es dennoch tat, dachten die Leute meistens, er wäre verrückt. Oder sie glaubten, er rezitiere Gedichte.
So wie diese zwei auffallenden Fremden auf dem Schulhof – die Goldene Dame und der Silberne Mann.
»Du hast ein besonderes Auge. Oder sollte ich sagen, ein besonderes Ohr?«, sagte die Goldene Dame. »Einen so talentierten jungen Mann habe ich nicht mehr erlebt, seit, nun ja, seit dieser Mann hier ein Junge war.«
»Oh, aber ich habe nie so etwas gemalt«, sagte der Silberne Mann bescheiden und lachte. »Dieser Junge ist einzigartig. Nicht wahr, mein Sohn?«
Benjamin brachte nicht einmal ein ordentliches Dankeschön über die Lippen. Egal, was er gesagt hätte, es hätte falsch geklungen. Denn ihr Lächeln, das warm sein sollte, war alles andere als das.
Benjamin mochte diese Fremden nicht.
Sie hatten graue Stimmen. Grau war die Farbe von Computerstimmen und Anrufbeantwortern. Seiner Erfahrung nach sagten Menschen, wenn sie graue Stimmen hatten, meistens nicht die Wahrheit. Seine Mutter hatte ihm erklärt, dass es nicht fair war, Menschen nach der Farbe ihrer Stimme zu beurteilen, weil niemand außer ihm diese Farben wahrnahm.
Er konnte kaum glauben, dass andere Leute nicht sahen, wie die Worte der beiden wie Rauch aus ihrem Mund aufstiegen – oder war es mehr wie der Atem an einem sehr frostigen Tag? –, aber er versuchte, nicht allzu auffällig hinzustarren. Wenn er nur darauf hörte, was die Fremden sagten, und nicht darauf achtete, wie sie es sagten, dann, so musste er zugeben, waren sie sehr freundlich.
Sie erklärten, dass sie ihn zu einem Künstlercamp mitnehmen wollten.
»Es wird dir gefallen«, sagte die Goldene Dame. »Wir haben viele ungewöhnliche Materialien und du wirst andere junge Künstler treffen, mit denen du Spaß haben kannst.«
Benjamin war froh, dass sie ihm nicht den Preis wegnahmen; aus irgendeinem Grund hatte er das befürchtet. Trotzdem kam ihm das mit dem Künstlercamp merkwürdig vor. Selbst Benjamin, der noch nie in einem Feriencamp gewesen war und der sich
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