Der Narr
ich bin mir sicher, dass sie uns so zu Ceallach führen werden. Kümmere dich bitte darum, dass sie beide observiert werden! Und wenn du das gemacht hast, versuche bitte auch noch einmal Frau Loidl telefonisch zu erreichen.«
In der Zwischenzeit entschuldigte Remmel sich kurz. Womit er nicht rechnen konnte, das war, dass sich innerhalb eines Toilettenganges das Blatt ihrer Ermittlungen völlig wenden könnte. Hanni hatte ihr Smartphone noch in der Hand, doch ihr Gesicht war bleich.
»Was ist? Hast du Frau Loidl endlich erreicht?«
Sie schüttelte den Kopf und stammelte: »Bin gerade von Kollegen angerufen worden. Remmi, es ist etwas passiert.«
*
Sam fühlte sich mehr und mehr in die Tiefe gezogen. Nach jedem freien Fall wurde ein neues Loch aufgestoßen. Stets blickte er in einen weiteren gähnenden Abgrund, wenn er bereits glaubte, ganz unten angekommen zu sein. Er hatte es gewagt, Horst mit seinem eigenen Handy anzurufen und so zu erfahren, dass seine Wohnung komplett auf den Kopf gestellt worden war. Mittlerweile quälte ihn auch der Gedanke, dass die Polizei ihn infolge dieses kurzen Telefonats auch noch hatte orten können und er beschloss, das Telefon künftig ausgeschaltet zu lassen.
Auf der Straße fühlte er sich sicher. Ungewollt war er in eine Art Live-Rollenspiel gestoßen worden. Er spielte den Punk. Niemand würde Sam, hatte er in der Vergangenheit doch oft genug auf Asoziale geschimpft, ausgerechnet auf der Straße vermuten. Sein Versteckspiel kostete ihn Nerven. Die Tage vergingen und bereits nach der dritten Nacht war er nur mehr ein Schatten seiner selbst. Schon auf den Zeltlagern in seiner Jugend wurde immer darüber gescherzt, dass er frühmorgens sprichwörtlich zur Prinzessin wurde. Ihm war dauernd kalt und stets jammerte er herum. Das war kein Vergleich dazu, die Nacht auf einer Parkbank zu verbringen.
Er hasste es, bereits im ersten Morgengrauen aufzuwachen. Kaum hatte er die Augen nur kurz aufgemacht, schloss er sie wieder. Jeden Morgen begann er damit, zu hoffen, dass alles wieder schnell vorbeiginge. Je länger er mit geschlossenen Augen dahinvegetierte, desto mehr ekelte es ihn an, so unentschlossen zu sein. Doch bis der Hunger unerträglich wurde, würde er sich nicht bewegen.
Zu seinem größten Problem tagsüber gehörte mittlerweile die Frage, ob er pinkeln musste oder nicht. Ein Druck in der Blase bedeutete, sich erheben zu müssen. Er fragte sich, wie lange es wohl noch dauern würde, bis ihm auch das egal war und er ein dringendes Bedürfnis einfach laufen lassen würde.
Linderung verschaffte ihm nur, wenn jemand Bier ausgab. Selbst wenn es fahl schmeckte, abgestanden oder warm war, ein ›alkoholisiertes Grundrauschen‹ schien die einzige Medizin für sein Gemüt zu sein. Er wartete darauf, dass wieder ein Bier die Runde machte und dass seine Laune am Abend nicht ganz so schlimm würde. Je länger er am Boden vor dem Bahnhof Wien-Mitte den Gesprächen seiner ›Punkfreunde‹ zuhören musste, desto mehr betete er darum, dass ihn ein Blitz erschlagen möge. Sogar dafür, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, war er zu feig.
Der Alkohol hatte ihn dort hingebracht, wo er war, und so seltsam es auch schien, der Alkohol riss ihn auch wieder heraus. Im Stadtpark wurde gefeiert, nachdem ein Punk ein paar Bier ausgegeben hatte, weil er zuvor einen 100-Euro-Schein gefunden hatte. Sam schlürfte gerade sein drittes Bier, als der ›Rauschengel‹ sich bei ihm meldete.
Jetzt ist es soweit. Genau jetzt! Jetzt musst du dich entscheiden! Es geht um nichts Geringeres als dein Leben.
Du kannst jetzt aufstehen und dir noch ein Bier holen, doch sobald du es aufgemacht hast, ist es vorbei. Dann ist dein Schicksal besiegelt, die Türe zu und aus!
Eine Stunde, vielleicht zwei oder drei, wenn es gut geht. Dann ist das Bier aus, und du trinkst alles, nur um dein alkoholisches Grundrauschen nicht zu verlieren. Du weißt nämlich genau, was dich am nächsten Morgen erwartet und du willst alles dafür tun, um das Erwachen aufzuschieben.
Doch irgendwann kannst auch du nicht mehr. Du legst dich hin, wie so oft davor, du brabbelst noch irgendwas vor dich hin, wie so oft davor, und du pennst irgendwann weg. Und wie so oft davor, wirst du aufwachen und dir wünschen, nie geboren worden zu sein. Du wirst weinerlich sein, an Selbstmord denken, wohlwissend, dass du zu feige dazu bist und weiter nichts anderes tun, als darauf zu warten, dass der Tag vorbeigeht und hoffen, dass du nicht pissen
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