Der Narr
Diese Spannung machte die Nacht zu einem äußerst prickelnden Erlebnis, nie und nimmer wollte sie diese und auch die folgenden Nächte missen.
In ihrer Lebensplanung war jedoch nicht vorgesehen, bei Zärtlichkeiten regelmäßig nackt ans Bett gefesselt zu werden. Irgendwann wurde es für sie langweilig und sie zog den Schlussstrich. Er hatte unter der Trennung weit mehr gelitten als sie.
Sie hatte in der Zeit mit Louis schnell gelernt, dass es eine klare Grenze zwischen Rollenspiel und Leben gab. Ihr Liebhaber hätte sich sprichwörtlich eine blutige Nase geholt, hätte er versucht, auch ihr tägliches Leben zu dominieren. Und dennoch verstand sie, warum dieses Spiel für manche Frauen gefährlich werden konnte: Dieses Gefühl, jemanden hilflos ausgeliefert zu sein, die Kontrolle über den Körper abzugeben. Wenn der Partner dieses Spiel von Dominanz und Unterwerfung beherrschte, lieferte die Spannung, die dabei entstand, einen besonders intensiven Kick. Manche bemerkten wohl nicht, wenn sie nach und nach zum Schatten des Anderen mutierten.
Hanni sah wieder in die großen, dunklen Augen der jungen Frau. Marion war genau der Typ Frau, der diese Grenze schon lange überschritten hatte. Sie musste erst wieder lernen, sich über sich selbst und nicht über ihren Liebhaber zu definieren. Hanni wusste genau, was zu tun war, um einen fruchtbaren Boden zu schaffen und ihr Vertrauen zu gewinnen, damit sie vielleicht etwas zum Fall sagte. Sie lächelte Marion an und erzählte ihr von Louis.
*
Sam durchschritt die massiven Doppeltüren der Wiener Hauptuniversität. Er passierte die prunkvolle ›Alma Mater‹-Tafel, an der einstige Rektoren mit latinisierten Namen in vergoldeter Schrift angeführt waren. In den ehrwürdigen Räumen der Weisheit sprach scheinbar niemand vom gemeinen Alfred – es war der schlaue Alfredus, von dem kundgetan wurde.
Sams neuen Bekanntschaften aus der ›Heiden- und Reenactment-Szene‹ wäre diese Latinisierung sicher ein Dorn im Auge. So hätte der spitzfindige Heide aus dem schlauen Alfredus sicher einen weisen Alfrederix gemacht. Für Sam war das keine Option: Alfredo Ben Kenobi! Aber auch klingonische Beinamen boten sich an: ›Ta’ Alfredor 'e' lIjlaHbe'bogh vay’‹ - Imperator Alfredor - der Unvergessliche.
Vorbei an stuckverzierten Wänden führte ihn sein Weg in den Arkadenhof hinein, zu den Büsten zahlreicher großer Geister. Vor den strengen Blicken der abgebildeten altehrwürdigen Herren tummelten sich junge Studenten in bunten T-Shirts und teils zerrissenen Jeans. Wie fremd er hier war! Dabei hatte Sam sogar einmal versucht, sich einen Kunstfilm bis zum Ende anzusehen. Ein traumatisches Erlebnis. Zwei Leute auf bewegten Bildern, die sich die ganze Zeit nur anstarrten – das war kein Film, das war Platzverschwendung auf Speichermedien. Anonym hatte er darauf mehrmals versucht, auf Wikipedia den Begriff ›Film‹ neu zu definieren: Muskelbepackte Helden, coole Sprüche, schnelle Autos, Knarren und ordentliche Schießereien. Die Qualität eines Films wird definiert durch die Zahl und Qualität der darin gezeigten Titten. Mittlerweile war seine IP-Adresse gesperrt worden.
Er fand das Audimax, den größten Hörsaal der Universität, ohne fremde Hilfe. Der Vortrag eines jungen Professors, der sich auf keltische und germanische Magie- und Religionsvorstellungen spezialisiert hatte, hatte zahlreiche Studenten angelockt. Manche Zuhörer, die – wie Sam vermutete – nicht studierten, legten demonstrativ Bücher wie ›Die keltische Geheimlehre‹ auf das Pult vor sich.
Sam sah Gisi in der Mitte des großen Saales sitzen. Er blickte sich um. Er musste verrückt sein, sich in einen von Menschen bevölkerten Ort zu begeben, schließlich wurde immer noch nach ihm gesucht. Allerdings war die Gefahr zu groß, Gisi in der Menschenmenge wieder aus den Augen zu verlieren. Sam stellte sich in eine Ecke und wartete darauf, dass es losging. Endlich setzte sich der Professor seine Brille auf und begann mit seinem Vortrag:
»Den ersten Teil meines Vortrags widme ich der Frage, wie die Vorstellung vom edlen Wilden der Antike entstanden ist. Mein Hauptaugenmerk ist es, zu zeigen, dass die Romantisierung der antiken, nordeuropäischen Völker schon lange vor Asterix gebräuchlich war. Der Begriff Romantik für einen Zeitabschnitt der Geschichte ist nicht aus Jux und Tollerei entstanden ...«
Sam fiel ein Student mit Dreadlocks auf, der ein Tablet mit sich führte und ihn immer wieder
Weitere Kostenlose Bücher