Der nasse Fisch
»Da ist bei uns die zweite große Pause, da befinden sich alle Schüler auf dem Pausenhof. Und der geht nach
hinten raus. Da kann niemand etwas gesehen haben!«
Mit diesem Satz wurde Rath hinauskomplimentiert. Um Viertel vor zehn stand er wieder auf der Straße. Keine halbe Stunde hatte
sein Besuch in der Schule gedauert, und die meiste Zeit hatte er damit verbracht, darauf zu warten, endlich zum Rektor vorgelassen
zu werden.
Der Tag fing ja gut an!
Er beschloss, August Glaser, den Zeugen in Hausnummer 19, noch einmal zu befragen. Vielleicht hatte der ja noch ein bisschen
mehr zu erzählen, als im Protokoll stand. Ein zweiter Besuch wirkte manchmal Wunder, das hatte Rath schon oft erlebt. Doch
in diesem Fall bewirkte er gar nichts: Glaser war nicht zu Hause.
Dass Polizeiarbeit zu neunzig Prozent aus vergeblichen Mühen besteht, das wusste Rath, aber heute fehlte ihm die nötige Geduld.
Die Zeit drängte, er musste vorankommen. Und der Schlafmangel hatte seine Gelassenheit nicht gerade erhöht.
Also gut, noch einmal in die Nummer 17, diesmal ohne Charly. Zu den Leuten, die sie gestern nicht angetroffen hatten. Auch
Charly hatte an einer Tür vergeblich geklingelt, so hatte sie es wenigstens in ihren Bericht geschrieben. Rath hatte sich
den Namen notiert.
Inge Schenk war noch im Morgenmantel, bat ihn aber dennoch gleich herein. Sie kümmerte sich rührend um ihn. Ein Kaffeechen?
Ein Likörchen? Rath entschied sich für Kaffee.
Sie führte ihn in ihr Wohnzimmer, bat ihn, Platz zu nehmen, und kam kurz darauf mit einem Tablett zurück. Er bekam seinen
Kaffee, sie stellte ein Likörglas vor sich hin.
Sie schenkte ihm die Tasse nicht einmal halbvoll. Nur eine Pfütze. Rath hatte seine erste Frage gerade gestellt, da war die
Tasse schon leer.
Sie antwortete nicht. »Noch einen?«, fragte sie.
Er nickte, und sie griff nach der Kaffeekanne. Als sie ihm nachschenkte, beugte sie sich so weit vor, dass ihre üppigen Brüste
beinah aus dem Morgenmantel fielen. Diese Prozedur wiederholte sich so oft, bis Rath das System dahinter erkannte. Bei jedem
Nachschenken kam sie ihm näher, öffnete sie ihm großzügigere Einblicke in ihr Dekolleté. Als sie schließlich beim Einschenken
auch noch zwei, drei Tropfen Kaffee auf seinen Schoß spritzte und mit der Serviette auf seiner Hose herumzureiben begann,
reichte es ihm. Fluchtartig verließ er diese gastliche Wohnung und rannte die Treppe hinunter.
Auf dem Absatz im ersten Stock stand die alte Dame, derenKatzenhorde er gestern schon hatte bewundern dürfen. Elfriede Gaede. Freudestrahlend blickte sie ihm entgegen.
»Herr Kommissar! Gut, dass Sie da sind!«
Sie winkte ihn herein. Was sollte das denn jetzt?
»Tut mir leid, ich habe keine Zeit«, sagte er und wollte an ihr vorbeigehen. Sie schien ihn gar nicht gehört zu haben. Ihre
dünnen Finger griffen nach seinem Arm und zogen ihn in die Wohnung. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.
Elfriede Gaede war nicht so schwach, wie sie aussah. Außerdem war Rath nicht in der Stimmung, sich heute auch noch mit einer
alten Dame einen Ringkampf zu liefern.
»Was ist denn los?«, fragte er, diesmal mit lauterer Stimme.
Sie schaute ihn an. Na, wenigstens schien sie ihn jetzt gehört zu haben.
»Nein«, sagte sie und schüttelte energisch den Kopf, »auf dem Sims!«
Rath erinnerte sich an ihr gestriges Gespräch, das ähnlich absurd verlaufen war, und drehte die Augen zur Zimmerdecke.
Die Wohnung roch immer noch wie ein einziges riesiges Katzenklo. Die alte Dame führte ihn zu einem offenen Fenster.
»Da«, sagte sie und zeigte hinaus. »Da ist er einfach raus, und nun kommt er nicht mehr zurück! Der arme Napoleon!«
Rath beugte sich aus dem Fenster. Fünf, sechs Meter rechts von ihm saß ein fetter schwarzer Kater auf dem Fassadenvorsprung
und fauchte ihn an.
Katzen retten, war das nicht die Betätigung, die Zörgiebel ihm in Köpenick in Aussicht gestellt hatte?
»Haben Sie denn hier in der Straße keinen Schutzmann, der Ihnen helfen kann?«, fragte er.
»Natürlich! Heute Morgen erst! Was denken denn Sie!«
Sie wirkte ehrlich entrüstet. Rath wusste zwar nicht warum, aber er merkte, dass er hier nicht eher rauskam, bevor ein fetter
Kater namens Napoleon einer alten Dame namens Elfriede Gaede wieder um die Beine strich.
Er legte Hut und Jackett ab und kletterte aus dem Fenster. DasSims war nicht sehr breit. Wie eine Klette klebte er an der Wand und tastete sich auf
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