Der nasse Fisch
»Da kamen zwee mit so ’nem Karren direkt auf unseren Strauch zu. Wir hatten die Kippen jerade wieder verbuddelt
und wollten los. Sindwa natürlich im Versteck jeblieben.«
»Zwei Männer mit einem Karren?«
»Genau, war der Karren vom Friedhof, den kennen wir. Aber die Männer waren nicht vom Friedhof.«
»Warum weißt du das so genau?«
»Also, die vom Friedhof, die tragen entweder Frack und Zylinder oder loofen in Arbeitsklamotten rum. Die hier hatten janz
normale graue Hüte, Anzüge und Mäntel.«
»Konntet ihr sie erkennen?«
»Nee, kaum. Sind dann doch abjebogen und vom Strauch weg. Außerdem hat’s ja jeregnet. Waren aber ziemlich kräftige Kerle.«
»Und auf dem Wagen lag ein Teppich?«
»Ne, Blödsinn. Die hatten einen janz normalen Sarg dabei.«
»Aha.« Rath nickte. »Also so wie immer.«
»Nee, eben nicht«, meinte Hotte. »Der Sarg war nicht zujenagelt. Und als sie an dem frisch ausjebuddelten Grab ankamen, haben
sie sich Taschentücher vors Gesicht gebunden, den Deckel runter, die Balken vom Grab und die Kiste ausjekippt.«
»Ausgekippt?«
»Ja, ab in die Grube. Ging ziemlich schnell. Dass es ’ne Leichewar, haben wir auch erst jewusst, als et inner Zeitung stand. Sonst wären wir ja direkt zum Revier jeloofen. Ehrenwort!«
»Und dann?«
»Dann sind die Männer wieder ab. Balken übers Grab, Deckel uffen Sarg und weg.«
»Und ihr?«
»Wir auch, Mensch! War doch schon spät. Wir mussten zurück in die Penne!«
»Ihr habt nicht mehr ins Grab geschaut?«
»Nee! Ehrenwort. Hatten doch keene Zeit mehr!«
Rath wusste nicht, ob er ihm glauben sollte, dass sie wirklich nicht nachgeschaut hatten, aber das war jetzt nicht so wichtig.
»Vielen Dank für eure Hilfe, Jungs!«
»Knorke, Herr Kommissar! Sie sind in Ordnung. Und ick dachte zuerst, der olle Funke hätte uns die Polente uffen Hals jehetzt.«
Rath überlegte einen Moment, ob er den Jungen noch verraten sollte, wie man mit Hilfe eines nassen Schwamms, eines Stuhls
und eines ahnungslosen Schulleiters eine Menge Spaß haben konnte, aber er beherrschte sich. Rektor Funke würde auch so ab
und zu eine Abreibung bekommen, das hier waren aufgeweckte Jungen.
»Hat denn wirklich keiner von euch ein Gesicht erkannt? Dann könntet ihr zum Alex kommen und unserem Zeichner das beschreiben!«
Kopfschütteln.
»Aber eine Aussage müsste einer von euch noch machen. Ich verspreche euch auch, dass euer Schulleiter und eure Eltern davon
nichts erfahren.«
»Klar, kann ick machen«, sagte Hotte mutig.
»Gut, ich nehm dich gleich nach der Schule mit. Sag deinen Eltern, du müsstest noch was Wichtiges erledigen. Dauert auch nicht
lang. Außerdem gibt’s Kuchen.« Rath wusste, dass in dieser Hinsicht auf Gennat Verlass war.
»Hätten Sie uns gestern schon gefragt, hätten wir das auch alles erzählt, Herr Kommissar, Ehrenwort.«
»Ihr hättet es ja auch meinen Kollegen erzählen können, die waren gestern hier unterwegs. Hat euch da niemand befragt?«
Allgemeines Kopfschütteln.
»Wohnt ihr denn nicht in dieser Straße?«
»Bei den Rollern? Nee!« Es klang fast, als wiese Hotte eine schlimme Beleidigung zurück. »Wir kommen alle aus der Winsstraße.«
»Aha.« Rath nickte verständnisvoll. Ihm kam noch eine Idee. Er holte die Fahndungsfotos der letzten Woche aus der Tasche.
»Habt ihr diesen Mann denn hier mal rumlaufen sehen?«, fragte er. Er musste blättern wie in einem Kartenspiel, bis er das
Kardakow-Foto gefunden hatte. »Muss ein paar Wochen her sein.«
Die Jungen schauten reihum auf das Foto und schüttelten den Kopf. Rath steckte die Fotos wieder ein. Hätte ja sein können,
dass Kardakow in dieser Gegend untergetaucht war, bevor ihm seine Peiniger auf die Schliche kamen.
Auf der anderen Straßenseite schrillte die Schulklingel. Die fünf Jungen machten sich auf den Weg. An der Einfahrt zur Schule
blieben sie plötzlich stehen und unterhielten sich kurz. Einer kehrte um. Es war Kalle.
»Herr Kommissar«, sagte er, »Herr Kommissar! Könnense mir den Mann nochmal zeigen?«
Rath kramte das Kardakow-Foto wieder hervor.
»Nicht den, den anderen.«
Rath wusste zuerst nicht, was der Junge meinte, dann zeigte er ihm die alten Fahndungsfotos der beiden Russen.
Der Blick des Jungen blieb an Selenskijs ED-Konterfei hängen.
»Der hier«, sagte Kalle nach kurzem Überlegen, »der hier hat den Karren gestern gezogen. Hundert Prozent!«
Kurz darauf saß Rath in einem grünen Opel und war auf dem Weg nach
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